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Bin ich zu emotional? Vielleicht sollte ich Josef nicht zu viel von dem schreiben, was mich umtreibt. Vielleicht macht er sich dann zu viele Sorgen. Aber ich weiß, dass er ohnehin spürt, wenn ich etwas nicht schreibe. Und ich möchte ihm auch alles wissen lassen, was wir empfinden, was hier geschieht. Er hat das Recht darauf. Er gehört zu uns. Und es hilft mir, alles etwas leichter zu nehmen, wenn ich das Gefühl habe, er weiß darum, nimmt Anteil. Ich möchte ja auch wissen, was mit ihm ist, wie es ihm geht, auch wenn es nicht gut ist. Wir haben es uns doch auch versprochen damals vor dem Altar. In guten wie in schlechten Zeiten. So soll es sein. Natürlich als wir die Worten sprachen, haben wir nur an gute Zeiten gedacht. Wer hätte damals geahnt, was kommen würde. Es hatte sich alles so wunderbar gezeigt. Das Leben. Wie glücklich waren wir. Wie unbeschwert. Wie jung. Noch so jung. Und wie lange ist das her? Eine Ewigkeit. Eine kleine Ewigkeit von nur wenig mehr als einem Jahrzehnt. Ich werde mich immer an den Tag erinnern. So kalt wie heute war es auch da. Der 29. Januar 1929. Warum haben wir in dieser Kälte geheiratet. Ich weiß es nicht mehr. Ach – wir wollten einfach nicht mehr warten. Konnten nicht. Obwohl wir es nicht wussten, dass da schon jemand in mir wuchs , noch nicht– auch ich nicht. Irgendwie geahnt wohl. Alles war so wunderbar. Ging so schnell, ging so schön.
Und ja, wir hatten wohl recht damit, es so eilig zu haben. So schnell wie möglich das Glück zu leben, das sich uns bot. Ich bin so froh, dass wir jeden Tag dieser zehn Jahre so bewusst erlebt haben, so glückvoll waren. Dieses Wissen macht mir das Jetzt so viel erträglicher. Und ich ziehe alles Glückspüren von Damals in mein Gedächtnis, wenn wir im Keller sitzen, es plötzlich dunkel wird und die Erde bebt. Wenn ich meine Kinder beschützen muss, beschützen darf. Bin glücklich, sie zu haben, auch wenn ich ihnen das alles so sehr gern ersparen würde. Doch sie sind so stark, viel stärker manchmal als ich. Auch wenn sie weinen und zittern, sind sie doch so kraftvoll in sich. So wundervoll. Und meine Liebe zu ihnen grenzenlos. Natürlich habe ich Angst um sie, aber manchmal glaube ich, dass es ihnen gelingt, dieses alles zu überstehen, wenn wir nur zusammenhalten, zusammenbleiben, was auch immer noch geschehen wird.
Emilia hat manchmal eine ganz besondere Fähigkeit alles Furchtbare vergessen zu machen. Sie singt. Jetzt wieder. Eine Zeitlang war ihre Stimme stumm. Aber jetzt ist sie wieder da. Und sie trägt uns über alles hinweg, über alles Dunkle und Schwere. Sie schwebt über uns wie eine sanfte Decke der Zuversicht. Es sind Melodien von unbekannter Schönheit, die aus ihr herausfließen. Ich weiß nicht, woher sie kommen und sie weiß es auch nicht. Als ich sie einmal danach fragte, sah sie mich überrascht an und sagte: „Sie kommen einfach so aus mir“. Sie sagte das als wäre das ganz natürlich. Und vielleicht ist es das auch. Jedenfalls für sie. Manchmal glaube ich, dass sie irgendwie noch sehr in einer anderen Welt verhaftet ist, in der, wo wir wohl alle einmal waren und in die wir einmal zurückkehren werden. Sie scheint sie noch zu sehen, zu spüren und verstehen. Frau Meier nennt sie immer Engel. Ich finde das übertrieben, aber vielleicht ist ein bisschen Wahrheit dabei. Was wissen wir schon. Wir Menschen. Mit unseren begrenzten Verstand.
Wenn wir alles wüssten. Was wüssten wir dann. Würde ich denn alles wissen wollen? Will ich wissen, was dieser Krieg uns noch bringt. Was noch für Leid auf uns wartet. Will ich wissen, warum das alles so gekommen ist. Warum die Menschen sich gegenseitig bekriegen, warum ein Größenwahnsinniger mit allen Mitteln die Weltmacht an sich reißen will. Und warum die Welt ihm dabei solange zugeschaut hat bis es zu dieser Apokalypse gekommen ist. Warum niemand ihm Einhalt geboten hat, ihn hat machen lassen. Ich will es nicht verstehen, denn vielleicht würde ich dann den Verstand verlieren. Aber ich will klar sein. Klar sein, für Lia und Nick, für die Zukunft, die wir alle noch haben werden. Ich vertraue darauf, dass wir eine haben. Es kann nicht anders sein. Ich fühlte mich noch so jung. Ich möchte meinen Kindern beim Erwachsenwerden zuschauen, ihr Glück überwachen, ihre Kinder sehen und ihnen allen wissen lassen, was war, damit sie ihr Leben leben können. Frei und hoffnungsvoll.
Darum bete ich zu Gott. Das mir das vergönnt ist. Und ihnen allen, die in unserer Familie nachwachsen.
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Emilia
Beim Abendessen war Marissa schweigsam. Nachdenklich saß sie auf ihrem Stuhl und schien kaum wahrzunehmen, was sie aß. Emilia beobachtete ihre Enkelin forschend, suchte ihren Blick, der ihr vielleicht Aufschluss darüber geben konnte, was sie beschäftigte. Doch Marissa sah durch sie hindurch wie durch Glas. Emilia schmunzelte als sie ihr Tee nachschenkte, ohne dass es eine Reaktion hervorrief und sie auch dann nicht aufblickte als sie das letzte begehrte Stück Ei vom Teller nahm.
„Issa – wo bist du denn?“ Emilia winkte schließlich ausladend mit den Händen um auf sich aufmerksam zu machen. Ein Zucken ging durch den Körper der Enkelin und ihr Blick wurde langsam klar. „Oh. Ich bin da. Aber, na ja…“ Sie unterbrach sich. „Entschuldige Oma, ich habe an damals gedacht.“
Emilia nickte. „So sah es aus. Du warst ganz weit weg.“
„Es ist für mich so schwer vorstellbar, wie ihr habt leben können. Mit dieser ständigen Gefahr, mit dieser Angst.“
„Ja – das ist wohl unvorstellbar. Und ich weiß es eigentlich auch nicht, wie wir es geschafft haben. Wir mussten. Wir hatten keine andere Wahl. Das ist wohl die Erklärung.“
„Hattet ihr denn überhaupt noch so etwas wie ein ‚normales‘ Leben?“
„Einen Alltag, meinst du? Nun ja, so normal er damals eben war. Wir Kinder sind ja noch eine Weile zur Schule gegangen, die Erwachsenen zu ihrer Arbeit, so lange es irgendwie ging. Man hing an diesen alltäglichen Dingen, an der Normalität, wollte sie mit Macht festhalten. Ich bin auch oft noch zu meinen Großeltern rausgefahren. Mein Großvater holte mich ab und wir fuhren mit der Straßenbahn über die Bornholmer Straße bis Gesundbrunnen. Wenn ich über Nacht blieb, bin ich bei Alarm mit ihnen in den Keller gegangen. Ich weiß bis heute nicht, wie meine Mutter das hat zulassen können. Dass sie mich mit der Ungewissheit gehen ließ, dass vielleicht etwas Schlimmes passieren könnte, wir uns verlieren.
Aber wahrscheinlich war auch das ein Teil der gewollten Normalität. Dass die Großeltern ihre Enkel zu Besuch haben wollten und so tat man es. Ich fand das immer schön dort zu sein. Manchmal kam Nikolas mit, aber ich glaube, er hielt sich schon für sehr groß und wollte unsere Mutter nicht so viel allein lassen. Er war ihr Beschützer und wachte eifersüchtig über sie. Ach ja, Nikolas…“
Emilia verstummte von einem Moment zum anderen. Marissa merkte, dass es ihr schwerfiel weiterzusprechen. Da war so viel, was verborgen war, was empor wollte ans Licht. Vielleicht war es aber einfach zu viel. Zuviel für die Großmutter, die doch so alt geworden war und jetzt so ruhig und glücklich lebte. War es recht, sie darin zu stören? Marissa wurde unruhig. Was war da jetzt in Bewegung geraten, was brach da auf? Sie merkte an sich selber, wie ihr das alles nah ging. Ihr, die sie so viele Jahrzehnte entfernt von dem zur Welt gekommen war, was wohl nie zu begreifen sein würde . Wie mochte es da der Großmutter gehen, die ein Teil dessen gewesen war. Was geschah jetzt, wenn alles wieder so lebendig wurde. Sie wollte nicht, dass ihre Großmutter das Leid von früher wieder neu spürte. Das durfte nicht sein. Natürlich – sie selber hatte ihr das Buch gegeben, sie auf die Vergangenheit gestoßen. Doch es konnte nicht sein, dass es ihr so weh tat. Das konnte sie nicht ertragen.
Mit einer impulsiven Bewegung sprang Marissa auf und zu ihrer Großmutter, umschlang sie fest mit den Armen. „Liebste Oma“, wisperte sie so leise in ihr Ohr, dass es kaum zu hören war. Als sie sich von ihr löste, gab sie sich betont aufgekratzt. „Weißt du was, ich glaube, ich gehe doch noch zum Dünensingen. Ich will unbedingt Knut in Aktion erleben.“
Emilia lächelte verhalten. „Ja – geh nur, gute Idee!“
Nachdem Marissa wie der Wind aus der Tür gefegt war, blieb Emilia eine Weile bewegungslos am Tisch sitzen. Schließlich