Bezüglich Fichtes Gleichnis Fichte rekurriert von Kleist nicht auf komplexe optische Apparaturen, sondern auf Alltagserfahrungen, zumal er seine Worte in seinem Bildungsanspruch an die Verlobte richtet: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün — und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört.“
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts kamen grüne, gelegentlich auch blaue Brillen zum Schutz gegen direktes Sonnenlicht auf. Farbige Gläser wurden auch gegen wissenschaftliche Einwände auch um die Jahrhundertwende verkauft 42. Eine religiöse Protestbewegung, die Apparate nur aus ökonomischen Interesse zu veräußern, existierte, so dass katholische Prediger grüne Brillen als Metapher für Unmoral oder für Unverbindlichkeit der Aufklärung verwendeten. Künstler betrachteten die Gläser als Symbol für den falschen Schein. Während der Französischen Revolution wurden die Brillen als unnatürlich stigmatisiert und als Bekenntnis zum Ancien Régime gewertet. Die Frühromantik knüpfte daran an, erst während der Wiener Restauration erfreuten sie sich wieder der Beliebtheit: Gläser wurden von Hoffmann mehrfach symbolisch für den Übergang in eine andere Welt verwendet.
Er überträgt die Stimmung des Grotesken und Unheimlichen vom funkelnden Grün der Brillen auf grün funkelnde Augen. Nachdem die Brillen selbst seltener geworden sind, bedarf es ihrer nicht mehr, um die mit ihnen verbundenen Angstgefühle zu aktivieren, oder das Motiv droht gar unverständlich zu werden.
Im April 1799 immatrikuliert sich von Kleist an der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt Oder. Der Skandal um Meinungs-und Gewissensfreiheit, der mit Fichtes Demission endete, ist brandaktuell. Fichtes Bild vom farbigen Glas steht im Zusammenhang des Nachweises, dass Gott eine stoff-zeit- und raumlose, intelligible Größe ist, folglich unterschiedlich vorgestellt werden kann.
Alles Denken beruht auf eine Konstruktion des Ich, Gott wird zum Produkt der Einbildungskraft (nicht der Fantasie). Dabei konfigurieren sich zwei Arten von Schemata: Handeln und ausgedehnten Stoff. Handeln inkludiert den ersten, ursprünglichen Grund für eine Ereignisreihe; es erfolgt spontan außerhalb der Reihe von Ursachen und Folgen und ist übersinnlich, sprich intelligibel. Fichte heißt es intellektuelle Anschauung, um sie gegen Kants sinnliche Anschauung, Zeit und Raum, abzugrenzen. Alle Materie bleibt als ausgedehnter Stoff sinnlich innerhalb der Kausalreihe.
Das spontane Handeln, bei Kant noch spontanes Vermögen der Vernunft, erweist sich als Alleinstellungsmerkmal des Menschen, das moralische Handeln und alle Erkenntnisprinzipen initiiert. Sinnliches Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft sind für Fichte ein und dasselbe. Sämtliche Anschauung der Objektwelt (Materie) basiert auf ursprünglich spontanen Denkakte. Wir sind immer auch das, was uns als Gegenstand gegenübersteht; das Ich ist das Ding an sich selbst. Handeln muss zunächst Gegenstände wahrnehmen und sinnliches Vorstellungsvermögen durchlaufen, um zum höheren, spontanen Denken zu gelangen. Bei diesem Durchgang wird es gemäß der sinnlichen Anschauung räumlich und zeitlich modifiziert und erscheint daher als Gegenstände.
Es sind auch andere Quellen für die Gläser denkbar, vor allem Klingers43 anspruchsvoller Roman „Der Kettenträger“ (1796), der darin Positionen Kants, Fichtes und Rousseaus zu vermitteln sucht. Der relevante Passus lautet: „Vielleicht weil jeder glaubt, er habe den größten Splitter der Wahrheit in seinem Systeme; sein Glas, wodurch er, zum Beispiel, alle Gegenstände grün sieht, sey das untrügliche“.
Auch Brentano verwendet für seinen Roman „Godwi“ ein Glas-Gleichnis: „Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases."44 Gestalt gilt Brentano als Grenze des Gedachten, das Ungestaltete ist das Unbegrenzte. Da der Roman bereits 1798 gestaltet wird und von Kleist den Fichteaner Brentano kennt (ihre Freundschaft endet im Disput über die Berliner Abendblätter) ist anzunehmen, dass er die Wendung vor der Veröffentlichung des zweibändigen Briefromans kennt. „Das grüne Glas ist das Medium der Sonne.“
Fichte hat sein Bild definitiv von Kants „Träume eines Geistersehers“, wo die Gläser das Verhältnis zwischen Diesseits und Jenseits verrücken. Auch Fichte hat wohl ein Teleskop vor Augen, was den Bezug zu Gott aufrechterhält. Von Kleist deutet es als Glasaugen um. Selbst wenn es sich um ein Missverständnis handelt und nicht um dichterische Freiheit, so bleibt die Verschiebung von Erkenntnis elementar. Für von Kleist ist die moralische Seite der Wahrheit von der epistemologischen getrennt.
Auch Tieck, mit dem von Kleist später in Dresden zusammentrifft, benutzt das Gläser-Gleichnis in seiner Komödie „Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem guten Geschmack“ (1799), indem er den Stallmeister die Worte in den Mund legt, „Als ich letzthin die Optik studirte, bemerkt' ich, daß es etliche unterschiedliche Farben gäbe, als roth, blau, grün und so weiter“. Der Verweis auf Fichte findet durch den Protagonisten gleichen Vornamens Gottlieb Betonung. Der Stallmeister will die neue Wissenschaft studieren, um sich nochmals „von vorne erziehen zu lassen.“ Diese Wendung variiert von Kleist in Variation für seinen Essay „Über das Marionettentheater“.
Das Motiv, von vorne beginnen zu müssen, taucht auch in Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780) auf, das von Kleist vertraut ist und in engem Zusammenhang mit „Nathan der Weise“ steht. Da Gott „einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besonderen Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.“45
Summa summarum repräsentiert die Analogie der bunten Gläser einen Verweis auf die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, aus denen eine Einheit geformt werden kann und muss. Die substantielle Einheit liegt dabei im Ich. Der Zweck der Verschiedenheit liegt in der Meinungsbildung, dem Austausch von Möglichkeiten und der schrittweisen Annäherung an die nicht sichtbare Wahrheit dahinter. Wahrheit und Bildung streben jedoch auseinander und eine systemische Einheit bzw. Synopse gerät zunehmend ins Wanken. Mit Fichte intensiviert sich die Bedeutung von Meinungs-und Gewissensfreiheit.
II. 3. 2. Doppelgänger - Motiv und Ich-Spaltung
Bereits „Die Bestimmung des Menschen“ (Dezember 1800) ist im Kunstgespräch-Dialog gehalten, der u. a. den Essay „Über das Marionettentheater“ auszeichnet. Cassirer, der sich vornehmlich auf dieses Werk für seine Theorie der Kantkrise stützt, bezieht lediglich die ersten beiden Teile Zweifel und Wissen ein. Dass mit 1801 ein Wendepunkt hinsichtlich der Emanzipation Fichtes von Kant einsetzt und sich auch von Kleist mehr der Subjektphilosophie anschließt, die dem Wollen und der Tat mehr Bedeutung schenkt, ist naheliegend. Kants Kritik der praktischen Vernunft wird zum Drehpunkt seiner und Fichtes Reflexion, da sie die Grundlage für das Miteinander und dem Aufbau der Gesellschaft bilden. Fichte nimmt Anstoß an dem Ding an sich, bei dem Kant stehen bleibe als unhintergehbar und sucht im Ich das Subjekt als höchste Instanz zu etablieren; nur was Ich ist auch Ding an sich, da dieses ein reines Konstrukt der Vorstellung bzw. der Einbildungskraft ist und vom Ich gesetzt wird.
Fichtes Anspruch besteht darin, Kant zu vollenden; es ist sein erstes Werk nach dessen Tod und arbeitet direkt seiner „Wissenschaftslehre“ zu, die zur Jahrhundertwende die populärste im gesamten deutschsprachigen Gebiet wird. Die Metapher vom rollenden Rad der Geschichte in seiner dynamischen Entwicklung und einer Welt, die auch ohne Gottes Segen auskommt, ist nachhaltig für von Kleist. Ebenso die Vorlesungen, die er 1806 in Berlin hält und die von Kleist mit seinem Vorgesetzen Freiherr vom Stein zu