Heinrich von Kleist. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783753174808
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Publikation bekannt ist. Gerade der nationale Charakter und Patriotismus Fichtes, die in „Reden an die deutsche Nation“ 1808 kulminiert und die Rhetorik lösen Enthusiasmus in von Kleist aus.

      Der Begriff Lebensplan stamm gleichfalls von Fichte, wenngleich in folgender Formulierung nicht substantiviert: „Die erste Handlung der Selbsttätigkeit eines Menschen lautet: Es kommt darauf an, dass ein mündiger Mensch einen Plan für sein Leben entwirft. Einen solchen Plan habe ich längst entworfen.“46 In seiner anschließenden Rede „Über die Würde des Menschen“ lässt er verlautbaren: „Der Mensch wird Ordnung in das Gewühl und einen Plan in die allgemeine Zerstörung hineinbringen; durch ihn wird die Verwesung bilden und der Tod zu einem neuen herrlichen Leben rufen.“ Diese Zeilen könnten aus der Feder von Kleists stammen, aber zu dieser Zeit fühlt er sich noch nicht zum Dichter berufen. Zu diesem Zeitpunkt aber verlässt er die Armee und nimmt sein Studium auf. Er ist zwanzig Jahre, bildungshungrig, sein Geist formbar.

      Durchaus vorstellbar, dass „Die Bestimmung des Menschen“ nach der er selbst forscht, seinen Nerv wie den der meisten jungen Leute seiner Zeit trifft. Allerdings könnte die Fichte-Lektüre auch zeitversetzt und damit nach der Kant-Krise eingesetzt haben. Von zentraler Bedeutung ist die, in der Bestimmung durch den Dialog auch formal erfüllte, Identitätsproblematik und Zweiteilung des Menschen. Bereits Kant verweist darauf, dass jeder Gut und Böse in seiner Seele und nie ein Absolutes davon in sich trägt, weshalb er auf eine höhere metaphysische Instanz (Gott) rechnet, die dem Tugendhaften in seinem moralischen Gesetz beisteht. Ein literarisches Exempel für die Dopplung des Ich liefert die Erzählung „Michael Kohlhaas“ durch die Rolle der Zigeunerin, deren Identität nicht geklärt wird, deren Dokument dem Todgeweihten unversehens Macht gewährt und die als zweites Ich seiner gerade verstorbenen Frau erscheint.

      Entscheidend ist Fichtes Prioritätsverschiebung von Wissen auf Handeln, von Gesinnungs-auf Erfolgsethik, die einen, dem Idealismus meist abgesprochenen, Pragmatismus inkludiert.

      Februar 1801 schreibt von Kleist: „Ich meine darum, weil man beständig und immer von neuem handeln soll und doch nicht weiß, was recht ist. Wissen kann unmöglich das Höchste sein – handeln ist besser als wissen. Aber ein Talent bildet sich im Stillen, doch ein Charakter nur in dem Strome der Welt. Zwei ganz verschiedene Ziele sind es, zu denen zwei ganz verschiedene Wege führen. Kann man sie beide nicht vereinigen, welches soll man wählen? Das höchste, oder das, wozu uns unsre Natur treibt? – Aber auch selbst dann, wenn bloß Wahrheit mein Ziel wäre, – ach, es ist so traurig, weiter nichts, als gelehrt zu sein.“47 Höhepunkt der Krise, die ihn in die Schweiz treibt ist der folgende Brief an seine Schwester: „Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts, wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt, und daß folglich das Bestreben, sich ein Eigentum zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ganz vergeblich und fruchtlos ist, dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert – Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr.“

      Der Zweifel „Du“ ist der Dialogpartner und Wegbegleiter des „Ich“. Liest man Fichtes Inszenierung eines philosophischen Dramas, so könnte darin die Ursache seiner Verzweiflung liegen, über deren Gründe von Kleist nichts sagt. „Welche Macht kann mich von dir, welche Macht kann mich von mir selbst retten?48Du wolltest wissen von deinem Wissen; du suchtest das Wissen da, wohin kein Wissen reicht, und hattest dich schon überredet, etwas einzusehen, das gegen das innere Wesen aller Einsicht streitet.“ Von Kleist ist folglich überzeugt, dass man sich nur selbst erziehen kann, weil nichts ins Ich hineingezwängt zu werden vermag, was nicht hinein will. Das Individuum bleibt in radikal vereinsamender Weise zurückgeworfen auf sich selbst. Es muss, um aus dieser Isolation herauszufinden, aus seinem Selbst einen Doppelgänger erzeugen.

      Die Doppelung besteht nicht nur zwischen Ich und vermeintlichen, aber selbst erzeugten Nicht-Ich, sondern auch zwischen Gefühl und Verstand. „Ich ehre Dein Herz, und Deine Bemühung, mich zu beruhigen, und die Kühnheit, mit welcher Du Dich einer eignen Meinung nicht schämst, wenn sie auch einem berühmten System widerspräche – Aber der Irrtum liegt nicht im Herzen, er liegt im Verstande und nur der Verstand kann ihn heben.“49

      Das berühmte System ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Fichtes bzw. die neuen Kantianische Philosophie. Das Höchste bei Fichte ist fortan der Wille und dieser koinzidiert mit dem Glauben. Der Glaube vereint und versöhnt Selbst und Bewusstsein, Ich und Nicht-Ich, Gefühl und Verstand, Tat und Gedanke: „Dieser Wille verbindet mich mit sich selbst; derselbe verbindet mich mit allen endlichen Wesen meines Gleichen, und ist der allgemeine Vermittler zwischen uns allen. Das ist das grosse Geheimniss der unsichtbaren Welt, und ihr Grundgesetz, inwiefern sie Welt oder System von mehreren einzelnen Willen ist: jene Vereinigung und unmittelbare Wechselwirkung mehrerer selbstständiger und unabhängiger Willen miteinander; ein Geheimniss, das schon im gegenwärtigen Leben klar vor aller Augen liegt, ohne dass es eben jemand bemerke, oder es seiner Verwunderung würdige. – Die Stimme des Gewissens, die jedem seine besondere Pflicht auflegt, ist der Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen, und als einzelne, und besondere Wesen hingestellt werden; sie zieht die Grenzen unserer Persönlichkeit; sie also ist unser wahrer Urbestandtheil, der Grund und der Stoff alles Lebens, welches wir leben.“50

      1806 besucht von Kleist nachweislich Vorlesungen der neu gegründeten Humboldt-Universität Unter den Linden, in der Fichte Direktor ist, bevor er von Hegel abgelöst wird. Er hört folglich die Theorien über den Handelsstaat und die Geschichtsphilosophie, vor allem die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Der Aktualitätsbezug und das Politische ist ungewöhnlich und gefährlich, denn in diesem Jahr bricht im Oktober die Preußische Armee zusammen und die Franzosen okkupieren die Stadt. Zahlreiche Gewaltorgien in von Kleists Prosa bzw. Dramen sind vielleicht Augenzeugenberichten geschuldet, es herrscht Krieg mit all seinen Kollatoralschäden. Die Reden an die deutsche Nation vom Dezember 1807 hat von Kleist sicherlich zur Kenntnis genommen, sie gelten als wichtigstes Zeitdokument. Das Ziel: ein neues Menschengeschlecht.

      III. 1. Die Familie Schroffenstein

      III. 1. 1. Entstehung und Dramaturgie

      „Aber welchen Mißgriff hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, das weder Mann noch Weib ist, und gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt.“51

      Kleider-und Rollentausch haben eine zentrale Funktion im Werk von Kleists52, denn sie versinnbildlichen sowohl den schwebenden Zustand zwischen Natur-und Rechtsstaat als auch die Identitätsproblematik, zudem Androgynität (Hermaphroditen - Mythos) des Menschen samt seiner Gebrechlichkeit.

      Seine erste Tragödie, ein Trauerspiel, hauptsächlich in Paris und im Schweizer Thun in der Wohnung seines Literaturfreundes Heinrich Zschokke, verfasst, vollendet Kleist Anfang 1803. Zu diesem Zeitpunkt will von Kleist, dem Großes nie groß und Gewaltiges nie gewaltig genug ist, Shakespeare übertreffen. Sein an „Romeo und Julia“ angelehntes Trauerspiel erscheint anonym und erlebt bleibt nach seiner Premiere am 9. Januar 1804 im Grazer Nationaltheater ohne weitere Aufführungen hinterlassen. Besonders das Ende verstört, da die Versöhnung der Familien im Eiltempo erfolgt und weder Trauer noch Raum für andere Gefühle lässt. Auf die Gewaltorgie (der natürlichen Ordo Kleists) erfolgt die Peripetie, die im Drama gewöhnlich früher erfolgt. Teilweise wird dies erklärt durch von Kleists abrupte Abreise aus der Schweiz, denn von der Veröffentlichung bzw. der einmaligen Aufführung in Graz erfährt er nichts. Im Herzen trägt er ein anders Stück: „Robert Guiskard“, das Fragment bleibt.

      Zwei nur geringfügig abweichende Fassungen entstehen; eine Variante spielt im mittelalterlichen Schwaben, die zweite in Spanien. Einige Namen der Protagonisten wie der Witwe Ursula sind gleich, die anderen nicht. Schroffenstein könnte auf Schraffenstein verweisen, einem Jugendfreund Schillers, da von Kleist sich in seiner Tradition sieht und Misstrauen, Rechtsgefühl bzw. Loyalitätsbruch die beiden entfremdet. Auch dass von Kleist an die Burgruine Schrofenstein in Obertrirol denkt, ist denkbar, zumal sie mit einer Familienfehde in Verbindung steht.

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