Kant denkt die Welt vom transzendentalen Subjekt aus; die Welt an sich existiert nicht bzw. kann nicht zweifelsfrei über logische Schlüsse erkannt werden, da der Mensch ein Sinneswesen ist und bereits durch die Anschauungsformen von Zeit und Raum eingeschränkt wahrnimmt. Entscheidend für von Kleists Subjektkonstitution wird der permanente Konflikt, die Krisis in Permanenz durch eigene Wahrnehmung mit der Autonomie des Denkens und dem allgemeinen Gesetz.
Er sucht Zwecksystem als das Gesetz des Allgemeinen und Zufall als das Gesetz des Besonderen zu synthetisieren. Der Zufall muss bezwungen werden. „Eine solche sklavische Hingebung in die Launen des Tyrannen Schicksal, ist nun freilich eines freien, denkenden Menschen höchst unwürdig. Ein freier, denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern.“31 Folglich fühlt Kleist sich allein für all sein persönliches Misslingen allein verantwortlich.
Seine Protagonisten sind zu einer sprachlichen Regelung unfähig, wie er betont: „Nur weil der Gedanke, um zu erscheinen, wie jene flüchtigen, undarstellbaren chemischen Stoffe, mit etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein muß, bediene ich mich ... der Rede.“32 Ähnlich lautet eine andere Stelle: „Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhält sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen.“ Von Kleist sucht physische Metaphern für die Dialektik aus These und Antithese.
Ein zentraler Begriff in Kants Sittenlehre lautet Pflicht. Nicht von ungefähr unterscheidet er das Gewissen als „aus Pflichtgefühl“ handeln zu wollen gegenüber der ethischen Norm, die eine präskriptive Pflicht als Grundlage zu „pflichtgemäßen Handeln“ verlangt. Das richtige und gute Handeln macht von Kleist abhängig von der unerbittlichen Strenge, sich selbst gegenüber, seine Pflichten zu erfüllen und über die Neigungen zu stellen. Die bloße Anerkennung oder Einsicht, das sich Fügen in das Notwendige hingegen genügt ihm nicht. Gut zu sein beinhaltet für Kleist, die Wahrheit zu erkennen und den Zweck jedes Gedankens und jeder Handlung auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Lebenstatsachen können seiner Ansicht nach nicht weggedacht oder eskamotiert werden; ein isoliertes Denken im philosophischen Käfig ist unredlich.
Wie aber ist Freiheit innerhalb eines Mechanismus, wie es der Staat im Großen und das eigene (selektive) Wahrnehmen im Kleinen inkludieren, denkbar? Wie, mit Kant gefragt, lässt sich die Apperzeption, die Einheit oder ein archimedischer Standpunkt im Ich herstellen, wenn sich das Subjekt permanent neu im Außen spiegelt, um sein Selbst laut dem Gesetz der Identität zu bewahren? Kleists Ringen mit der Wahrheit, am anschaulichsten in „Der Zweikampf“ dargestellt, antizipiert das Verdikt Adornos, der Philosophie eine (tragische) traurige Wissenschaft nennt. Mensch und Leben bleiben aller denkerischen Anstrengung zum Trotz ein Rätsel; der letzte Grund aller Erkenntnis, bei der der Erkennende sich als Teil des Erkannten begreifen muss.
Drei Aspekte umreißen bis heute ungelöste Denkaufgaben, die wesentlich für die Kantkrise sind: Zunächst die tragische Einsicht, dass Plan und Vernunft der Natur allgemein und dem Missbrauch der Vernunft durch den Verstand unterlegen sind. Die Folge ist ein Krisenbewusstsein, die Krise in Permanenz, hinsichtlich der Verwirklichung des Guten dar, da der Zweck laut Kant nicht die Mittel rechtfertigt. Im Werk von Kleist kollidieren Bluts-und Familienbande als das ursprüngliche positive Recht der Natur (Rousseaus Erbe) mit dem Gesetz (Staatsraison), die durch negative Setzung Kontingente in Gestalt der gesellschaftlichen Formation werden. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aus der Reibung des Individuums mit seiner Pflicht zu autonomen Handeln und der real existierenden Unmündigkeit, Rechtlosigkeit oder Zwang heraus, resultiert die Unmöglichkeit, seinem Gewissen nach handeln zu können. Wenn das Subjekt alles in Frage stellen darf, dann auch sich selbst.
Wenn alles mit Notwendigkeit geschieht, dann ist subjektiv erworbene Freiheit ein kollektiver Betriebsunfall oder ein zufälliges Ereignis, keineswegs der Sinn von Geschichte. Wenn Spiel, Freude oder Lust dem Ernst der Einbildungskraft zuwiderlaufen, dann erscheinen Erkenntnis, Moral und Ästhetik (was kann ich erkennen? was kann ich tun? wie kann ich urteilen?) stets einem System der Zwecke unterstellt.
II. 2. 4. Kants Gleichnis der Marionette
Selbst der Essay über das Marionettentheater kann in der Auseinandersetzung mit Kant rezipiert werden, da die „Kritik der praktischen Vernunft“ eine metaphorische Steilvorlage bietet. Kann deshalb, weil ungewiss ist, ob von Kleist die praktische Vernunft las und wenn, ob er folgende Stelle über die Fatalität der Handlungen kannte: „In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.“33
Von Kleist gebraucht die Marionette für Kants höchste sittliche Schöne, das Erhabene. Von Kleist zeichnet drei Aspekte der aus dem Prinzip der Urteilskraft Kants nach: Wenn Bär und Fechtmeister wie Natur und Zivilisation, wie Instinkt und Verstand miteinander ringen, gewinnt das verstandeslose Tier und damit das Naturrecht des Körpers das Duell gegen das kultivierte Recht der Bildung und Ratio. Das Argument deckt sich mit Kants Abkehr vom Anthropologozentrismus. Nicht nur hier begegnet der Leser einem befremdlichen Triumph subjektiver Irrationalität, einer Unterlegenheit des Bewussten gegenüber des Unreflektierten (gleichsam Unbewussten), das als Inferno der Vernunft eingeklagt wird.
Die seelenlose Gliederpuppe erweist sich als Ausdruck von Erhabenheit. Kleists unstillbare Sehnsucht nach Kants Paradoxien - Gott kann nicht aus dem Verstand heraus erklärt werden, soll aber als Regulativ der Vernunft gelten - kann als Über-Ich nur im Inneren Bedeutung erlangen. Das Motiv von Gliederpuppen bzw. Marionetten als Metapher für Unmittelbarkeit und Automatismen kehrt leitmotivisch wieder.
Von Kleist sucht den Schwerpunkt der Marionette außerhalb des Menschen und sinnt ihr Menschliches an. Kant nennt das Ding an sich; das Dinghafte kehrt bei Kleist wieder als ein Stolperstein. Anthropologisch bedeutet das, er verortet den Menschen zwischen Tier und Gott; die blicklose Marionette (gleichfalls der Bär, die ohnmächtige Marquise von O oder der träumende Prinz von Homburg) sind schwerelos und von gleicher Grazie. Diese Natürlichkeit wird preisgegeben durch die Normierung und Formatierung des Denkens, der Schwerkraft.
Das Ergebnis ist die Legitimation des Selbst, die Entrückung und Verrückung des Denkens. Das Dilemma der Vernunft besteht darin, Utopie und Dystopie zugleich zu sein. Die Idee der Freiheit schlägt in ihr Gegenteil, den Zwang und die Notwendigkeit, um. Das Tier und die scheinbar mechanisch an Fäden gezogene Gliederpuppe sind ironischerweise freier als der gedankenvolle Mensch, dem schmerzlich die Unvollkommenheit vor Augen stehen muss als unauflösbare Diskrepanz von Sein und Schein.
Zweitens: in Kleists Werk, das Synthese zwischen Autonomie des Ich und Gemeinschaftssinn, ergo zwischen Freiheit und Gehorsamkeit (mitunter Unterwerfung) sucht, äußert sich ein leidenschaftlicher Drang zum Unbedingten a priori, der aber nicht mehr von dem harmonisch und rational begründeten humanistischen Weltbild der Weimarer Klassik, das an die Formbarkeit des Willens durch Bildung glaubt, getragen ist. Stattdessen beruft sich das Subjekt gegenüber den Wirren der trügerischen Welt auf die Intensität eines schmerzhaften Gefühls des Fragmentarischen und Brüchigen. Die Idee einer gerechten Obrigkeit (Napoleon oder der preußische Staat) fehlt zur Gänze; eine mit der Wirklichkeit versöhnende Lösung des tragischen Zwiespalts bleibt aus.
Erhaben ist der Mensch bei von Kleist nur, so lange er sich unbeobachtet wähnt. Sofern er etwas zu beweisen sucht, misslingt ihm das, was vorher mühelos erschien. „Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße“ („Der zerbrochene Krug“, Erster Aufzug). Was wahrhaftig