In diesem Brief, der einer Rechtfertigung für seine Demission aus der Armee gleicht, spricht Kleist davon, dass er zwei unvereinbare Pflichten in sich verspüre; die des Strafens und des Verzeihens. In einem anderen an seine Schwester Ulrike 1801 erwähnt von Kleist, dass ein Mensch für das Amt nicht mehr passt gleich einer erkalteten Kugel, wenn er sich für ein „höheres Feuer erwärmt.“ Das höhere Feuer ist für ihn die Kunst, das Amt die Armee. Natürlich hat der Autor bei seinem Bild eines Familienstammbaums die Zweige im Auge, die eine Krone in zwei Hälften teilen und ebenso die eigene Gespaltenheit in sich. So ließe sich sein Trauerspiel über die Schroffensteins rezipieren als Erdrücktsein von den militärisch ranghohen Ahnen.
Die zweite Möglichkeit besteht in der Textreferenz, die bei Kleist nicht selten ist. Das Zitat, wenngleich es häufig Kleist zugeschrieben wird, stammt aus der Feder Lessings und paraphrasiert damit die Aufklärung. Das Original: „Der große Mann braucht überall viel Boden, und mehrere zu nah gepflanzt, zerschlagen sich nur die Äste.“59 Der Dichter, der auch gesagt hat, kein Mann muss müssen, verkörpert den Optimismus der Rationalität und des mündigen Subjekts wie kaum ein anderer Denker und steht Kant sehr nahe.
Heinrich von Kleist hat sich bereits von diesem Optimismus entfernt, er weiß 1803, als die Schweiz Teil Frankreichs wird (die Helvetische Republik wird Vasallenstaat Napoleons), die Freiheit ist ein Mythos. Die aufgeklärteste Nation seiner Epoche verrät die Ideale der Revolution. Der Frieden von Lunéville im Jahr davor ist ein Siegerfrieden, ein Diktat, das die linksrheinischen Gebiete deutsche Städte Napoleon zuschlagen. Von Kleist hat guten Grund, der Aufklärung zu misstrauen und sie als getarnten Leviathan zu deuten. In diesem Sinn kann es nur einen Sieger geben, zu viele Könige oder Tyrannen schlagen sich selbst die Häupter ab. Bei Lessing obsiegt die Aufklärung, die Vernunft über das bloße wirre Gefühl, den Impuls, alles endet durch Nathan in Wohlgefallen. Daher liest sich Kleists Drama wie ein Gegenentwurf, der durch die Kantkrise ausgelöst, mehr als nur spekulativ erscheint.
Kleist beugt sich nicht den Konventionen des bürgerlichen Trauerspiels, das maßgeblich von Lessing bestimmt ist. Aufrichtige, wahrhaftige Gespräche finden nur in der Höhle, fern der Zivilisation statt. Das Werk kristallisiert eine Parodie des Trauerspiels, wozu der geschlechtliche Rollen-und Kleidertausch beiträgt. Jeder Verdacht, jeder Mord, erweist sich als ein Versehen. Johann beklagt die ermordeten Jünglinge und in einer Art Kindersprache fügt er hinzu: „Seid nicht böse. Papa hat es nicht gern getan, Papa Wird es nicht mehr tun. Seid nicht böse.“60
Dass ein debiler und illegitimer Sohn das Schlachten überlebt, weil er erst dazukommt, als alle Messen bereits gesungen sind erscheint sinnfällig für die Dekadenz der Epoche, in der unschwer trotz des zeitlichen Abstands die aktuelle sichtbar wird.
Die dritte Form der Textexegese ist der Blick von außen. Dies führt zu einem Vergleich mit Shakespeare hinsichtlich seiner Figuren: der Narr, der Bastard (Johann als illegitimer Sohn Ruperts) und die Hexe (Ursula, Barnabe), Handlungselemente (Kindsmord), Handlungsdarstellung (Verstümmelung) und Motive wie Bruderzwist, Fehde, Liebesverbot und Familienfluch.61 Die Welt ist Teufelswerk oder banale Schmierenkomödie, das zumindest besagt der Ausgang „Zum Totlachen“, die aus der Tragödie bereits die Groteske erahnen lassen, die von Kleist dem Publikum serviert: der Ausdruck aus dem Gastronomiebereich ist intendiert, denn Totlachen wird eingeschlossen von Wein: „Wein! Das ist ein Spaß zum Totlachen! Wein!“62 Die Reihung von Exklamationen ist Kleist´sche Normalität. Angedeutet wird Lebensekel ohnehin, u. a. durch Ottokar vor seinem gewagten Sprung aus dem Turm. Angesprochen, ob er sich das Genick brechen will, erwidert er: „Das Leben ist viel wert, wenn man es verachtet. Ich brauchs.“ Ein Adressat für seine Rede fehlt wie der Ausweg. Alles was bleibt, ist der buchstäbliche Sprung.
Politische Gewalt und Familienidentität bzw. Konflikt bilden ein durchgängiges Leitmotiv, was auf Kleist Rezeption von Schillers „Wallenstein“ (seine sakrale Aura und Charisma) rückführbar ist. 63 Rache („Kein anderes Gefühl will ich kennen“) wirkt als omnipotenter Trieb; die Unmöglichkeit der Liebe in einer von Gewalt beherrschten Welt die logische Folge. Kleist nimmt damit eine Antiposition zur Weimarer Klassik ein, aber auch gegen Rousseaus Romantik. Das Motiv des Krieges kann angesichts des historischen Rahmens nicht überraschen, in der Schweiz drohte ein Bürgerkrieg zwischen Sympathisanten und Gegnern Napoleons. Zudem bietet die Kant-Krise den Hintergrund zu dem Drama, zumal Kleist Paris als Sündenpfuhl kennenlernt und schwer von der Aufklärung enttäuscht ist. „Die Wiederherstellung der Natur in einem zweiten Paradies ist nur möglich in der äußersten, äußerst gefährdeten Künstlichkeit des Fiktionspiels.“64 Wahrheitsanspruch führt zur Identitätskrise und diese zu bewusster Lüge (Intrige) oder Scheinwissen, beides führt in die unausweichliche Katastrophe.
Triadische Geschichtsphilosophie
Die Geschichte als organisch-leibliche Einheit zu begreifen, ist eine romantische Idee, die dem Ontischen Sein-Werden-Seiendes entspricht. Nach und nach dem dreistufigen Modell gleicht das erste menschliche Zeitalter von einem paradiesischen Zustand des mit sich und der Welt in Harmonie lebenden Menschen in der Höhle; bei Rousseau ist dies das Naturgesetz. Ihr folgt eine zweite (mit der Gegenwart des 18. Jahrhunderts gleichgestellte) Phase der Entfremdung des Individuums, als ob man sich in dunkle Wälder verirrt habe. Die dritte Stufe soll eine reflektierte Wiederbelebung des naiv erlebten Zustands gewährleisten,
eine Harmonie der utopischen Einheit, wie sie Novalis in „Heinrich von Ofterdingen“ versinnbildlicht, dessen Mystik Gefühl und Ratio vereint. Die Hinwendung zum Ritterlichen ist für Kleistsignifikant, jedoch ohne guten Ausgang aus den „bunten Träumen.“ Ottokar redet von einem Zustand, in dem „ein Aug’ das andere“ gleich versteht; doch seine Liebe zu Agnes verschärft nur die Familienfehde.
Die zwei kollidierenden Rechtssysteme sind der Erbvertrag und das Faustrecht der Natur, die Lösung bleibt Kleist schuldig. Das herbeigesehnte Rechtsgefühl, bei Kant im Gewissen verankert, kommt nicht zum Tragen. Alle Figuren, selbst Ottokar, scheitern an Voreingenommenheit. Der Begriff Rechtsgefühl in Variation zu innerstes Gefühl taucht mehrere Male auf, bleibt aber kraftlos, da die Figuren es nicht verinnerlicht haben. Eustaches Ausspruch „Denn über alles siegt das Rechtgefühl“ erweist sich als infantiler frommer Wunsch ohne Substanz. Auch Reue bleibt ohne Kontinuität und dient nur egoistischen Motiven.
III. 2. Penthesilea
III. 2. 1. Entstehung und Dramaturgie
„Zwischen Verzweiflung und Verantwortung“ lautet der Titel eines Essays des Herausgebers Blamberger der Kleist-Jahresbücher. Damit ist die Periode der Entstehung gut umschrieben. Das Material für Penthesilea, Königin der Amazonen, ist einer griechischen Quelle entnommen und stellt ein Bild wilder Leidenschaft dar. Das Trauerspiel umfasst 24 Szenen, keine strenge Gliederung in Akte und entsteht zwischen 1807 / 1808, die Goethe für die Aufführung in Weimar in fünf Akte umschreibt. Es erlebt daher seine szenische Uraufführung posthum Mai 1876 im Königlichen Schauspielhaus in Berlin am Gendarmenmarkt.
Goethe lehnt das Stück als unvereinbar mit dem klassischen Grundgedanken ab, wobei er unterschlägt, dass bis zu Horaz grausame Schilderungen durchaus zum Bestandteil der griechischen Antike gehörten und nicht als unzeigbar galten, namentlich Euripides´ Version der Medea. Von Kleist erzeugt im Drama das Sinnbild des Schicksalhaften im Leben, wodurch die immanente, für das Gefühl spürbare Zwangsläufigkeit des Geschehens deutlich hervortritt. Das Drama wird aufgeführt und sofort wieder abgesetzt, von Kleist überwirft sich mit Goethe, da er ihn für seine komödiantische Bühnenadaption verantwortlich macht. Zu dem Ärger gesellt sich der drohende Bankrott der monatlichen Literaturzeitschrift Phoebus, die der Dichter mit all seiner Habe gegründet hat und der finanzielle Erfolg an den seiner Stücke gekoppelt ist. Im Juli geht das bei Cotta in Druck. April 1811 gibt es im Berliner Konzertsaal auf Initiative von Henriette Schütz eine szenische Lesung.
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