Heinrich von Kleist. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783753174808
Скачать книгу
klärt, vollzieht sich auch die Kontradiktion; die blinde Körperlichkeit wird unter kultureller Bedeutungsstiftung objektiviert und dem nackten Blick der Unschuld entzogen. Aufklärung erzieht nicht den mündigen, bestenfalls den um sein Unrecht wissenden Bürger. Beides erhellt und verdunkelt sich im fortlaufenden Spiel aus Enthüllen und Verhüllen. Am Ende steht ein Gesetz, das Kant noch metaphorisch „den bestirnten Himmel über mir“ ins Göttliche verweist, weil es die moralische Kraft des Individuums übersteigt. Von Kleist argumentiert: „Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen.“35 Der aufrechte Gang des Menschen wird übertroffen vom marionettenhaften, den Penthesilea oder der Prinz von Homburg an den Tag legen, als sie ihrer Bestimmung folgen und das Gesetz zu ihrem Schicksal formen.

      Drittens: Kleists Essay zentriert Anmut, die Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als „aufsteigende Idee der Kunst“ festlegt. Das ästhetische Wohlgefallen, auf dem sinnliche Erkenntnis basiert, folgt formgebundener Schönheit (form follows function). Kant unterscheidet das untere (sinnliche) vorm oberen (intellektuellen) Begehrungsvermögen; beides wird nur in der Kunst als ein „als ob Zwecksystem“ synthetisiert. Die Lust am Schönen, Kants interesseloses Wohlgefallen, bleibt in der Anmut subjektiv, um im Erhabenen objektiv zu erscheinen. Das planvolle Ausführen eines Kunstwerks transzendiert Natur in Erhabenheit als höchste Potenz, in ihr besteht der finale Zweck aller Ästhetik. Freisein von Imitation und Mimesis liegt allein in der Marionette. Sie scheint die dem Menschen verwehrte Rückkehr in den Zustand der paradiesischen Unschuld zu parodieren.

      Über Bewusstsein ins Unwissen zu gelangen erscheint paradox.

      Das mechanisch mathematisch berechenbare Grundgesetz der Welt wirkt als „Kleid des Gedankens“. Der Kern der Kunst besteht in der Aufspürung des Schicksals als der reinen Notwendigkeit, denkerisch alle Bewegungen zu bekleiden / begleiten. Die Apperzeption Kant: „Das Ich muss all meine Bewegungen denkerisch begleiten können“36. Selbstreflexion erfolgt über das Subjekt, ergo das Besondere, um dem Allgemeinen dienen. Aus dem Spiel wird der Ernst der Einbildungskraft; der Mensch gehört zwei Welten an, der sinnlichen kraft der Anschauung und der intelligiblen kraft der Einbildung.

      Auch der Aufsatz über die Verfertigung der Rede impliziert Grundkenntnis von Kants Denken, er invertiert dessen Klugheitsregel (Erst denken, dann reden) wenn er von der Kunst der Verfertigung von Gedanken bei der Rede eine Simultanität anstelle der Sukzession räsoniert. „Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, … und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.“37

      Auch hier muss die Vorstellung das Denken wörtlich begleiten können. Der mechanische, aber darum nicht seelenlose Gedanke ist in Kleists Automatismen der Rede omnipräsent. Aufgabe der Kunst bleibt, das Gemüt zu erregen und aus einer Gedanken-Starre zu befreien: „Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, um Vorstellungen, die wir schon gehabt haben wieder zu erzeugen ...“

      Von Kleist paraphrasiert Kants Gleichnisse, die nicht beweisen, aber nahelegen, dass er diese Stellen kennt. Kant wünscht ausdrücklich, die verwirrende Leidenschaft aus dem subjektiven Geschmack, dem Spiel der Einbildungskraft und aus dem Gemüt herauszuhalten. Kleist hingegen spricht im „Marionettentheater“ vom freien Spiel der Gebärden und im Aufsatz über die Redekunst von zweideutigem Spiel.

      Analoge Entsprechungen zum „Ernst der Einbildungskraft“ Kants finden sich im Ernst des Bären, dessen Lust nicht auf das Begehren, sondern Kenntnis gerichtet wird. Freuden an der Kunst stellen sich laut Kant zufällig ein und bilden ein nebensächliches Marginal ohne Einfluss auf die Qualität des Erkennens: Indem … das Schöne ein Gefühl directe der Beförderung des Lebens bei sich führt, und daher mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist; … das Gefühl des Erhabenen eine Lust ist, welche nur indirecte entspringt ... mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist ...“38

      Kleists Formulierung der Marionettenbewegung, die „in einer geraden Linie bewegt wird“ verweist möglicherweise auf Kant, der den Menschen als „krummes Holz“ bezeichnet: „Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann kein gerades Zimmer gezimmert werden.“39

      Diese Metonymie für Humanität wendet sich gegen den Gedanken, Mensch oder Natur auf ein Zwecksystem zu reduzieren, vielmehr rücken Bedürfnisse in den Vordergrund. Gemütserregung ist für Kleists natürliche Grazie und Herzensbildung unerlässlich.

      Die Gemeinsamkeit mit Kant liegt in Kleists Kritik an der Maßlosigkeit des manipulierenden Verstandes, den Verweis auf eine höhere Vernunft a priori. Beide Denker sind gottesfürchtig, doch vermeiden sie eine exterrestrische Explikation oder Begründung für menschliche Sitten.

      Kant nennt Moral in seiner „Kritik der Vernunft“ ein intellektuelles Gefühl und versteht darunter unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit, die gleichzeitig bereits eine subtile Interpretation, ergo ein Urteil, inkludiert. Ästhetik und Ethik sind folglich gar nicht zu trennen, insofern zählt der Gebrauch des Verstandes, die Qualität und nicht die Summe von Erkenntnis oder Wissen.

      Wäre der Mensch ein reines Verstandeswesen, er müsste mechanisch handeln und bedürfte der Empfindung nicht. Er ist aber ein Zusammengesetztes (Synthesis a priori), der immer situativ und kontextual eingebunden handelt. Jedes Urteil teilt ihn in zwei Sphären und nichts vermag diese Zerrissenheit aufzulösen, soweit der Mensch ein fühlendes Wesen ist. Von Kleist sucht einen „Schwerpunkt“ der Marionette, der außerhalb des Menschen liegt.

      Kant verweist auf den fragmentarischen und zugleich doppelbödigen Charakter der Sprache selbst. Von Kleist knüpft an: „Wie gern möchte ich dir alles mitteilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hindernis gäbe als dieses, daß es uns an einem Mittel zur Mitteilung fehlt. Selbst das, einzige, das wir besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke.“40

      II. 3. 1. Die grünen Gläser

      Die Zahl der Studien über von Kleists Fichtelektüre ist wesentlich überschaubarer als die zu Kant oder Rousseau. Eine Nahtstelle, zumal der Name nirgendwo auftaucht, aber die neue Kantianische Philosophie auf ihn verweist, zudem ab 1806 eine persönliche Bekanntschaft vorliegt und er in Berlin die aufgenommenen Vorlesungen Fichtes gehört haben muss, da er Interna vor der schriftlichen Veröffentlichung kennt. Einer der Vertreter der These, dass es sich gar nicht um eine Kant-sondern eine Fichtekrise gehandelt hat ist Ernst Cassirer, dessen Hauptargument darin besteht, dass Fichte in „Die Bestimmung des Menschen“, das Januar 1815 publiziert wird, als neue Kantianische Philosophie bezeichnet und erstmals eigene Wege geht, obgleich Kant sich noch zu Lebzeiten von Fichtes Auslegung distanziert. Fichte selbst gibt jedoch vor, sein System nur mit anderer Rhetorik zu vertreten und der Erfolg gibt ihm Recht: die Popularität des Königsbergers setzt erst mit Fichte und der Frühromantik ein. Novalis, Hölderlin und von Kleist sind um die Jahrhundertwende an der Tat und Fragen der praktischen Vernunft sowie der Ästhetik (Urteilskraft) stärker interessiert als an der reinen Vernunft, die beim Ding an sich „stehen bleibt“ (Fichte)

      Grüne Gläser, die Augen ersetzen, spielen bei von Kleistkeine Rolle, die Farbe, ist primär Vorstellung ein Spezifikum Fichtes. Grüne Brillengläser werden zur Schonung der Augen empfohlen, u. a. von Goethe, der als Kulturminister für Fichtes Karriere verantwortlich zeichnet und ihm während des Atheismusstreites die anfängliche Unterstützung entzieht, das Heine in „Zur