Darüber gibt u a. der „Allerneuste Erziehungsplan“ Auskunft, der Herbst 1810 in den Berliner Abendblättern erstmals publiziert wird. Er impliziert das Gesetz des Widerspruchs durch eine satirische Analogie zwischen der Physik und der Moral. Die fälschliche Gleichsetzung von Naturgesetzen mit Imperativen aus der Sittenlehre bzw. die Identität von epistemologischen und ethischen Gehalt einer Erkenntnis für das Urteil oder Handeln ist ein übergreifender Topos, der Rousseau und von Kleists Werk charakterisiert. Die Natur wird von beiden als regulative Idee verstanden; eine Rückkehr zu dem Paradies ist nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert, da Aberglaube und Rohheit Segnungen der Wissenschaft zunichtemachen würden. Es geht um ein Abwägen für ein „Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich“ (Metapher aus dem „Michael Kohlhaas“), eine Begrenzung von Leidenschaft, Vermögen, Herrschaft. Im Essay empfiehlt von Kleist auch eine Lasterschule zur Entwicklung der Tugend, um wie in der Elektrizität Minus in Plus umzupolen. Mit Rousseaus Pädagogik aus dem „Emile“ betreibt von Kleist an der Zensur vorbei Opposition gegen von Hardenbergs Schul-und Bildungsreformen inklusive seiner Wirtschafts-und Finanzpolitik.12 Dieselbe Ironie verwendet der Autor in seiner Anekdote „Der Griffel Gottes“, in der ein Blitzeinschlag (ohnehin seine Lieblingsmetapher) die Gravur eines Grabsteins ändert und somit die Natur posthum zu ihrem Recht verhilft.
Die Berliner Abendblätter (Oktober 1810 bis März 1811) sind nicht nur die erste Literaturzeitschrift, die Zensur (sowohl die Französische, als auch die Preußische) unterwandert, indem sie nur vorgibt, apolitisch zu sein, sondern auch das erste Tagesblatt überhaupt (Ausnahme Sonntag). So lange von Kleist den Berliner Polizeipräsident Gruner, der zugleich Zensor ist, täuschen kann, etabliert der den Journalismus als die vierte Gewalt. Er mischt Kriminalgeschichte (von Kleist hat ein Exklusivrecht auf Polizeimeldungen) wie die Brandanschläge in Smit der subtil vorgebrachten sozialen Kritik, Karikatur, Gedicht, Unterhaltung und Bildung durch seine „merkwürdige Übereinstimmung der physischen und der moralischen Welt“ (Peters), die in ihrem Skeptizismus weder Idyll noch Utopie zulässt. Rousseau gilt durch seine Artikel für die Enzyklopädie als einer der Begründer des investigativen Journalismus. Man kann folglich Brückenschläge zwischen Natur und Sozialem erkennen und eine Aufklärung des gesamten Menschen. Ohne Aufklärung ist der Mensch nicht viel mehr als ein Tier, aber nur auf-macht ihn zugleich abgeklärte; eine Maschine, einem Rad im Getriebe und systemkonformen, normierten Wesen. Von Kleist sucht einen Weg zwischen symbolischer und imaginärer Identität.
II. 2. Immanuel Kant
II. 2. 1. Die Kant-Krise als Krise der Vernunft
Der von Norbert Thomé im Jahre 1923 verwandte Begriff der Kant-Krise ist zweideutig. So schreibt Ludwig Tieck in der zweiten Auflage der Werkausgabe 1826 über Heinrich Kleist, dass er die Kantische Philosophie „weder zu fassen noch zu würdigen verstand". Der Terminus meint eine Zerrüttung des Weltbildes Kleists durch den übermächtigen intellektuellen Einfluss Kants. Mehrere Studienbeiträge beleuchten die bezeichnete Umbruchsituation des Dichters in einer von Kriegen geprägten Epochenschwelle, die Grenzgänger und „Limesfiguren“13 zeitigt.
Die erste nachweisbare Erwähnung datiert aus seinem Brief an die Verlobte Wilhelmine von Zenge im September 1800 mit der Formulierung „Über den Zweck unseres ganzen ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen, ob der Genuß der Glückseligkeit, wie Epikur meinte, oder die Erreichung der Vollkommenheit, wie Leibniz glaubte, oder die Erfüllung der trockenen Pflicht, wie Kant versichert, der letzte Zweck des Menschen sei, das ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich.“14
Was geschieht, wenn gesunder Menschenverstand und Vernunft, logischer Transzendentalismus und Gefühl „auf den Knien meines Herzens“15kollidieren? Die Beschäftigung mit Kant um die Jahrhundertwende führt bei Kleist zu einem Aufklärungs-und Fortschrittsoptimismus, der März 1801umschlägt in eine tiefe Sinnkrise und vorübergehende Orientierung an Rousseaus Natur-Idealismus, sowie Fichtes Subjektivismus. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Kant-und der Guiskardkrise, die in der Vernichtung seines höchst anspruchsvollen Dramas endet und den Lebensin einen Todesplan umschlagen lässt. Ob dies alles Kant zuzuschreiben ist bleibt offen.
Ernst Cassirer postuliert hingegen in seinem Essay „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“ (1919)16, Kleist habe erst durch die Lektüre Fichtes (der „neueren Kantischen Philosophie“) diese Krise erlitten, aufgrund der ihn erschütternden Einsicht von der Machtlosigkeit der Vernunft auf das Leben. Rousseaus Mitgefühl, die ständeübergreifende Solidarität im „Erdbeben von Chili“ ermöglicht, bleibt temporär, schlägt um in barbarische Lynchjustiz. Ob Cassirers Hypothese, von Kleist habe zunehmend Ohnmacht gegenüber seiner Epoche (Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht) und der Ananke (die menschliche Hybris) empfunden, zugleich seit seinem Kutschenvorfall auf der Würzburger Reise 1800 und dem Schock über die sündhaften Zustände in der Kulturmetropole Paris die Bedeutung der Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit höher bewertet. „Verrücktheit des Sinns“ nennt es Kant, dem von Kleist in „Michael Kohlhaas“ kongenial „Schwärmerei krankhafter und mißgeschaffener Art“ entgegenbringt. Der Glaube an die Vernunft und rationale Welterklärung schwindet, heuristisch ist dem nicht beizukommen, so dass die Welt nicht mehr als die beste aller möglichen gilt. Der Dichter wirkt wie ein hybrider Hermaphrodit, zwischen Pflichtgefühl und Leidenschaft, mystischem Glauben und apokalyptischen Visionen zerrissen.
Über die Beziehung von Kleist zu Kant ist viel geschrieben worden; so auch über sein Interesse an „Träume eines Geistersehers“17, die bereits im Titel sich an Rousseaus „Träume eines Spaziergängers“ anlehnen. Die Frühschrift dokumentiert Kants Beschäftigung tranceartigen Zuständen, Somnambulismus und Mesmerismus, wie sie in „Penthesilea“, leitmotivisch in „Das Käthchen von Heilbronn“ am deutlichsten im Drama „Der Prinz von Homburg“ zum Tragen kommen.18
II. 2. 2. Probierstein und metaphysische Gläser
Von Kleist kennt die Metapher vom „Probierstein“ Kants und zudem das Gleichnis von den grünen Gläsern, von der Unhintergehbarkeit des Dings an sich, der trügerischen Selbstgewissheit und fragilen, perspektivischen und niemals absolut zu erkennenden Wahrheit. Die Metapher des Probiersteins erwähnt Kant in seiner kleinen Schrift „Was heißt sich am Denken orientieren?“ (1784) viermal. Die bekannteste Stelle bildet zugleich den Schluss(stein): „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst [d.i. in seiner eigenen Vernunft] suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“.19 Lüge wird exemplarisch für viele andere Laster, die mitunter aber Gutes bewirken, als unmoralisch und unzweckgemäß verworfen. Ebenso das ungeprüfte Übernehmen von Meinungen, die sich später als richtig herausstellen. Der letzte Probierstein der Wahrheit ist immer die Vernunft und diese nur durch rechten Gebrauch des eigenen Verstandes erreichbar, der allein über die „Zulässigkeit eines Urteils“ befindet. Von Kleist artikuliert sinngemäß: „Wenn man also nur seiner eigenen Überzeugung folgen darf und kann, so müßte man eigentlich niemand um Rat fragen, als sich selbst, als die Vernunft.“20
Neben der Wahrheitsfindung tritt die moralische Vervollkommnung in den Vordergrund. Aus diesem Blickwinkel lässt sich „Der Prinz von Homburg“ als Replik auf die „Kritik der praktischen Vernunft“, in der die Unbestechlichkeit des Gewissens vor dem Gehorsam steht, rezipieren. Ein Recht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt findet sich explizit allerdings weder bei Kant noch bei Rousseau aus naheliegenden Gründen: erstens wieg ein Individualinteresse, sei es noch so berechtigt, niemals das Volksinteresse auf, zweitens kann ein subjektiver Grund niemals hinreichend für einen kategorischen Imperativ sein, die Situation kann bestenfalls hypothetisch, weil situativ gerechtfertigt erfolgen und drittens schützt Unwissenheit (die der Prinz vorgibt, da er den Befehl verträumt hat) in keinem Fall vor Verantwortung. Allgemein lässt sich aber ein Bekenntnis von Kleists zu Kants Verantwortungs-und Gewissensethik konstatieren. Selbst die Idee mit der Lasterschule im Essay „Allerneuster Erziehungsplan“ ist mit Kants Schrift „Über das radikal Böse vereinbar“, da es den Gedanken,