Der Abbruch des Physikstudiums und die Neuorientierung von Natur-auf Geisteswissenschaft erfolgt indirekt und während der intensiven Kantlektüre, da von Kleist seitdem weder an die Objektivität noch die Glückswürdigkeit im irdischen Dasein kraft der tugendhaften Lebensweise zu glauben vermag. Es ist strittig, in wieweit er die Ehe zu einer vermutlich nicht übermäßig geliebten Frau, die er vielleicht als gute Freundin gesehen hat, deshalb verwirft, weil auch Kant und Rousseau Junggesellen blieben, ein Grund liegt aber auch in seinem ehrgeizigen Anspruch als Versorger, den er nie gerecht zu werden vermag.
In „Träume eines Geistersehers“ (1766) taucht das Bild mit den Gläsern auf, das u. a. Hoffmann zur Novelle „Der Sandmann“ inspiriert. Es handelt sich um die verrückte Perspektive auf das Ding an sich bzw. eine Wahrheit hinter den Gläsern. Da die Augenmetaphorik zum unverzichtbaren Bestandteil von Kleists Poetik gehört, lohnt sich der Passus: „Wenn indessen die Vorteile und Nachteile in einander gerechnet werden, die demjenigen erwachsen können, der nicht allein vor die sichtbare Welt, sondern auch vor die unsichtbare in gewissem Grade organisiert ist .., so scheint ein Geschenk von dieser Art demjenigen gleich zu sein, womit Juno den Tiresias beehrte, die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen erteilen könnte. Denn, nach den obigen Sätzen zu urteilen, kann die anschauende Kenntnis der andern Welt allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Philosophen gänzlich von dieser harten Bedingung frei sein sollten, welche so fleißig und vertieft ihre metaphysische Gläser nach jenen entlegenen Gegenden hinrichten und Wunderdinge von daher zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne ich ihnen keine von ihren Entdeckungen; nur besorge ich: daß ihnen irgend ein Mann von gutem Verstande und wenig Feinigkeit eben dasselbe dürfte zu verstehen geben, was dem Tycho de Brahe sein Kutscher antwortete, als jener meinte, zur Nachtzeit nach den Sternen den kürzesten Weg fahren zu können: Guter Herr, auf den Himmel mögt ihr euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr.“25
Um nur ein Beispiel zu nennen, so liegt in Seelandschaft und Sehlandschaft eine Homophonie vor, mit der von Kleist in seinem feinsinnigen Kunstessay „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ vom 13. Oktober 1810 gespielt haben dürfte.26
Kants Verdikt über die Begrenztheit der Logik in den Naturwissenschaften zeigt Spuren. Ein Verzicht auf wissenschaftliche Genauigkeit impliziert durchaus nicht die Lust an der Einbildungskraft, vielmehr Achtsamkeit und Demut gegenüber der Unangemessenheit von Vorstellung und Erkenntnisgegenstand. „So kann man blondes Haar und blaue Augen haben, / Und doch so falsch sein?" sagt Varus über Thusnelda, in der er sich täuscht, weil er nur erkennt, was er erkennen will. Viele naturwissenschaftliche Experimente bestätigen, wonach gesucht oder gefragt wird; der Blickwinkel des Wissenschaftlers trübt daher die Realität, die nicht falsch, aber einseitig bewertet wird.
Besonders in seinem Aufsatz über das Glück, der zeitlich nahe an die Kant-Krise heranreicht, verdeutlicht die Nähe zu Kant, seiner Anschauung über die Tugend und den moralphilosophischen Ansatz, der sich von der Theodizee löst. Viele Gedanken aus der Sittenlehre, exemplarisch Kants Aufsatz „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ (1791) kennt er mit Sicherheit; Erkenntnisse daraus fließen in „Das Erdbeben von Chili“ ein, da der Hintergrund, das Erdbeben von Lissabon 1755 das naturwissenschaftliche Phänomen an die moralische und die Gottesfrage knüpft.
Man kann Gott weder erkennen noch ihn schlichtweg für den Lauf der irdischen Belange zur Verantwortung ziehen, ebenso wenig führten gute Absicht oder Erkenntnis automatisch zur gerechten Handlung. Der Tugend folgt nicht immer die Belohnung auf dem Fuß und man kann aus den richtigen Gründen falsch, aus den falschen Gründen richtig handeln. Das Zweckwidrige spricht nicht gegen die göttliche Instanz, auch die Vorstellung vom Paradies als eine ausgleichende Gerechtigkeit für erlittenen Unbill im Diesseits beruht laut Kant nur auf eine „willkürliche Voraussetzung“. Diese Schrift legt nahe, die wesentlich ältere vom Geisterseher über die metaphysischen Gläser als zwei Prinzipien, die transzendentale und die spekulative Vernunft auszulegen und die Trennung von irdischer und göttlicher Gewalt radikal zu vollziehen.27
Mystisch wie rational erscheint auch Kleists Entwicklung eines unglücklichen Bewusstseins aus der Ahnung von Glück heraus. Die Interjektion Ach ist ein Grenzwort an der Schwelle und am Grenzbereich zwischen Bewusstem und Unbewussten, Gesagtem und Ungesagtem, charakteristisch für „Die Verlobung von Santo Domingo“, in der Tonis gute Tat mit der Ermordung vergolten wird. In der Verlobung wie im Erdbeben scheitert individuelles Glück an der Laune und sinnlichen Begierde des Menschen. Laut Kant hat der Mensch eine starke Affinität zur Gewalt, die ein dauerhaftes Glück verhindert. Darüber hinaus bleibt er zeit seines Lebens einer nicht berechenbaren Welt, dem Zufall und seiner Gewalt über ihn ausgeliefert. Das alles versinnbildlicht sich in Kleists Metapher von der gebrechlichen Welt, was ihn zu einem unendlichen Regress in seinem Bemühen zwingt. „Er fing, da sein Gefühl ihm sagte, daß ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei, seine Bewerbung um die Gräfin, seine Gemahlin, von neuem an.“28 In Variation: „Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.“ Unerklärlich und gebrechlich gebraucht von Kleist synonym als Konvergenz psychischer und physischer Fraktur.
Sinnbildlich für die Kant-Krise ist sein Grüne-Gläser-Gleichnis, das Kleist in seinem Brief 1801 äußert, dem er vorausschickt „vor kurzem mit der Kantischen Philosophie bekannt“ geworden zu sein. „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich.“29
Der Gedankengang widerspricht dem seinerzeit vorherrschenden Bild der Wissenschaften. Von Kleist seziert in zwei Klassen: eine Gruppe versteht sich auf Formeln und eine andere auf Metaphern. An anderer Stelle spricht er vom Unterschied zwischen Philosophen und Dichtern; die hinzutretende verbindende Klasse ist die Marionette. Als Autor positioniert er sich dazwischen, denn er überkreuzt zwei narrative Techniken: das defizitäre Erzählen durch Vorenthalt einer entscheidenden Information und das ambivalente Erzählen durch Verweigerung eines eindeutigen (moralischen) Urteils. Theoretische und praktische Vernunft streben demnach wie bei Kant auseinander, wobei sie bei von Kleist auch nicht durch Urteilskraft vereinigt werden.
III. 1. 3. Subjektkonstitution: Zufall und Notwendigkeit
Unter diesen Umständen ist es nachvollziehbar, dass der Schrei eines Esels, der Pferde durchgehen lässt und die Würzburger Reise mit Ulrike nach Paris beinahe zu einem tragischen Ereignis hätte umschlagen lassen können, von Kleist einen nachhaltigen Eindruck von dem Stellenwert des Zufalls beschert. Darunter versteht Kant Bedingungen, die aus dem