Heinrich von Kleist. Bernd Oei. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Oei
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783753174808
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liebt und stirbt sich´s am besten. Abschied von der Qual. Auf Erden nie, im Himmel vielleicht, eher in der Hölle wird ihm zu helfen sein. Wo ist sie hin, die mächtigste Stunde seines Lebens, die ihm zeigt, dass der Zeiger springt, die Zeit klemmt, wenn sie sich ins Mechanische gesperrt sieht. Hört er die Zeit gehen, als das Mondlicht den Schatten seiner Lippen küsst? Oder ist es doch am helllichten Tag, inmitten von Eselslärm, als die Kutsche wankt und schließlich fällt, er überlebt, doch gleichsam nur als ein anderer. Der Vernunft erster Diener will er sein, am Ende ist alles Liturgie, nur noch Musik hat der Gewaltige in seiner Brust, wenn er die Sirenen schweigen und den Seraphim Posaune blasen hört. Sprache gleicht einem inneren Verhör, einem Tasten und Stolpern, endlos müht er sich, das Geschrei des Esels zu vergessen, doch es sind zu viele Esel unter ihm. Ulrike leuchtet in bunten Träumen aus dunklen Schlössern mit ihren fahl leuchtenden Gräbern.

      II. Philosophische Einflüsse

      II. 1. Jean Jaques Rousseau

      II. 1. 1. Grundsätzliche Affinität

      Da von Kleist äußerst selten konkrete Angaben über seine Literatur(quellen) macht, ist weder eine eindeutige Angabe der Buchtitel hinsichtlich der Rezeptionsästhetik, noch der Zeitpunkt seiner Beschäftigung mit ihnen nachweisbar. Die früheste Erwähnung Rousseaus in seiner erhaltenen Korrespondenz datiert aus dem November 1799 an seine Halbschwester Ulrike, der auf Dauer wichtigsten Bezugsperson. Die Verweise auf Rousseau mehren sich im darauf folgenden Jahr seiner Verlobung und halten bis zur Auflösung des Ehegelöbnisses, verbunden mit dem Aufenthalt in der Schweiz an. Wilhelmine von Zenge übersendet er die Gesamtausgabe Rousseaus mit den Worten, er sei ihm „der liebste, durch den ich dich bilden zu lassen vermag“ (Brief 3. Juni 1801), etwa einem Jahr nach Einwilligung Wilhelmines in die Verlobung. Von Kleist will die junge Frau nach seinem Idealbild nach pädagogischen Vorbild „Emile oder über die Erziehung“ (1762) erziehen. Da sie ihm nicht in die Schweiz folgt, bricht die Beziehung am 20. Mai 1802 ab mit seinem Schwur, niemals in die Heimat zurückzukehren. Von Kleists Erziehungsplan ist damit wie sein Versuch, sesshaft zu werden, perdu.

      Bereits die Rastlosigkeit seiner Wanderungen stiftet eine Analogie zu dem Genfer nebst der Musik, die von Kleist spätestens in seiner Legende über die Heiligen Cäcilie als unmittelbare Macht würdigt. Übereinstimmungen bilden der politische, zivilisations-und staatskritische Sendungsauftrag, die ethische Grundhaltung und die Betonung der natürlichen Lebensform in der Tugendlehre. Eine vorrevolutionäre Gesinnung im Vorgriff auf die Märzrevolution ist beiden nicht abzusprechen. Rousseau wird neben Voltaire und Diderot zum wichtigsten Vertreter der Lumières. Auch wenn der letzte Nachweis der Beschäftigung mit seiner Lektüre in einem Brief an Ulrike Juli 1807 (er steht vor der Entlassung aus französischer Gefangenschaft) stammt, so bleibt er ihm (gleich Hölderlin) in seinem Denken lebenslang verbunden.

      Dies gilt vor allem hinsichtlich der Befürwortung des Suizids, die zum paradoxen Freiheitsrecht inklusivem Todesplan gehört. Die Todesumstände Rousseaus sind bis heute ungeklärt; die These, Rousseau habe Suizid begangen, spricht auch Madame de Staël explizit in „Lettres sur le caractère et les écrits de Jean-Jacques Rousseau“ an. Ob von Kleist diese bekannt sind, bleibt spekulativ. Den lange offiziell verbotenen Roman „Julie oder Die neue Heloise“ (1761, „Briefe zweier Liebenden“), der eine Welle von Gefühlsromanen um nicht standesgemäße Beziehungen und Freitod auslöst, darunter „Die Leiden des jungen Werther“ (1774), schätzt er. Der Protagonist Saint-Preux nimmt sich das Leben, als das der geliebten Julie verlischt.

      In seinem sechsteiligen Briefroman verteidigt Jean-Jacques Rousseau Leidenschaft, Individualität, Spontaneität und die natürlichen Regungen der Seele gegen die unilaterale Verstandeskultur der rationalen Aufklärung. Die Natur erscheint im Roman als Erzeugerin und zugleich als Spiegel menschlicher Seelenregungen, so etwa der geheime Garten Julies, der zwar künstlich angelegt ist, aber urwüchsig aussieht, oder die Naturgewalt des Gewitters. Echte Tugend besteht nach Rousseau darin, die eigene Leidenschaft zu überwinden, wodurch diese erhöht und gereinigt wird. Die wirklich schuldlose, reine Liebe scheint allerdings nur in der Erinnerung und im Tod möglich. Rousseau entwirft mit der Beschreibung der ländlichen Idylle, in welcher der kleine Kreis um Julie zurückgezogen lebt, eine auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Naturverbundenheit und Glück begründete Sozialutopie: Die fortschreitende Bildung der bürgerlichen Schichten und Ausrichtung auf materiellen Wohlstand ist für ihn kein Mittel der Behebung von Unrecht, sondern ursächlich für soziale Ungleichheit. Summa summarum steht Rousseau für eine Sonderform, der sentimentalen Aufklärung, die Romantik integriert.

      Zentral wird die Skepsis gegenüber der Allmacht der Wissenschaft, vor allem hinsichtlich ihres moralischen Wertes und für das Glück. Hinsichtlich seines Schlusssatzes im Marionettentheater-Essays, der auf die Rückkehr in den paradiesischen Zustand anspielt wird die Zwiespältigkeit des Wissens deutlich: „Und doch – gesetzt, Rousseau hätte in der Beantwortung der Frage, ob die Wissenschaften den Menschen glücklicher gemacht haben, recht, wenn er sie mit Nein beantwortet, welche seltsamen Widersprüche würden aus dieser Wahrheit folgen! ... Nun also müßte man alle Kenntnisse vergessen, den Fehler wieder gut zu machen; und somit finge das Elend wieder von vorn an. Denn der Mensch hat ein unwidersprechliches Bedürfnis sich aufzuklären. Ohne Aufklärung ist er nicht viel mehr als ein Tier. Sein moralisches Bedürfnis treibt ihn zu den Wissenschaften an, wenn dies auch kein physisches täte. … Auch ist immer Licht, wo Schatten ist, und umgekehrt. Wenn die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Greueln des Aberglaubens die Tore – Wenn dagegen die Wissenschaften uns in das Labyrinth des Luxus führen, so schützen sie uns vor allen Greueln des Aberglaubens.“8

      Die Entscheidung, freier Schriftsteller zu werden und auf eine staatliche Besoldung, sei es im Militärwesen oder als Beamter zu verzichten, ist nicht ausschließlich, aber auch auf die Lektüre Rousseaus und von Kleists moralischem Anspruch, zurückzuführen. Es besteht bei ihm ein tiefer Zusammenhang zwischen (verfehlten) Gefühlen, Wissen, Begehren und Rechtsempfinden.

      II. 1. 2. Einfluss auf den Dichter

      Zahlreiche Motive im Werk von Kleists lassen sich leicht mit Rousseaus Gedanken, speziell seinem Aufsatz über die Ungleichheit „Discours sur l´inégalité“ in Bezug setzen: das aufgeklärte Frauenbild in „Der zerbrochene Krug“ bzw. „Die Marquise von O“, das Auseinandertreten von Eigen-und Selbstliebe in „Penthesilea“, die Kritik an der geschäftigen Torheit9 - in , die Wiederkehr der Idylle mit dem Ideal des sich über sozialen Klassenschranken hinwegsetzenden Weltbürgers (citoyen) in „Das Erdbeben von Chili“, der Abkehr von den Klugheitsregeln und Ökonomisierung der Bedürfnisse in „Der Findling“, die bedingungslose Vertrauen in die Intuition in "Das Käthchen von Heilbronn“, der existentielle Konflikt zwischen Rechtsverletzung und Staatsvertrag in „Michael Kohlhaas“, die Hinterfragung des Gemütszustandes in „Der Prinz von Homburg“, die Hinwendung an Naturunschuld und normübergreifender Identitätsbildung in „Die Verlobung von Santo Domingo“.10 Rousseau erweist sich als unverzichtbare Komplementärfunktion zu Kant und Fichte, die sich gleichfalls von ihm beeinflusst zeigen.

      Die Rousseau-Rezeption ist seit 1937 gut erschlossen11 und häufig Gegenstand in der von Kleist-Forschung, gerade hinsichtlich des Misstrauens gegenüber den Verstand und den Hiatus zwischen Erkenntnis und Sittlichkeit, die das Idyll vom Landleben nährt, bei von Kleist konkret nach seines Aufenthalts in Paris 1801. Seine Vorliebe für Kant und Rousseau verdeutlicht bereits die antithetische Grundhaltung der eigenen Gesinnung.

      Für das politische Verständnis von Kleists, hier Schiller und Hölderlin analog, ist die Unterscheidung elementar von angestrebten Gemeinwohl (volonté génerale) und Willen aller in ihrer Summe (volonté de tous). Diese Differenzierung entspricht der zwischen natürlichen Selbsterhaltungstrieb, Selbstliebe (amour de soi) und zivilisatorisch angeeignete narzisstische Eigenliebe (amour propre), um nur zwei kongeniale Schlüsselbegriffe zu nennen. Novalis´ Kommentar, kein Staat gleiche mehr einer (seelenlosen) Fabrik als Preußen trifft es pointiert, ebenso wie Hölderlins Satz aus dem Hyperion-Brief „Priester fand ich, aber keine Menschen“. Der Staat als tote Maschine ist abzulehnen, ebenso Prügel-und Todesstrafe bzw. eine materiale Bestimmung des Glücks,