Dabei erfolgt eine kurze Erläuterung zur zeitlichen Einordnung, den Begleitumständen und der Intention, eine äußerst kurze Inhaltsangabe und Interpretation nach diversen Schwerpunkten. Die beiden Komplementärwerke sind die Frauen Penthesilea und Käthchen sowie die Protagonisten Hermann und Friedrich von Homburg. Die Familie Schroffenstein repräsentiert das einzige reine Familiendrama.
Nach selbigen Prinzip wurden sieben Erzählungen untersucht. Auch hier tritt die Sekundärliteratur in den zweiten Rang und wird nur in Ausnahmefällen zitiert, der Hinweis auf thematische oder argumentatorische Überschneidung muss genügen, da sich die Monografie als eigenständige Reflexion versteht. Die Plus-Minus Gegenüberstellung besteht zwischen Verlobung und Erdbeben, Findling und Marquise von O, Cäcilien-Legende und Zweikampf. Die Novelle „Michael Kohlhaas“ steht nicht nur aufgrund ihrer Länge für sich, da sie mindestens drei Themen in sich vereinigt (Recht, Rache, Gottessuche).
Abschließend finden zwei Essays eine Würdigung. Den Schlussstein liefert eine Rezeption Nietzsches und Kafkas eine Form von Komparatistik und Einordnung, die zu den vorab untersuchten Grenzgängern erfolgt.
I. Biografie
I. 1. Lebensstationen
Nur wenige Bilder existieren von ihm, eigentlich nur zwei, auf denen der Mann mit dem markanten Stammeln kindlich wirkt. Bereits seine Geburt wirft Rätsel auf; das genaue Datum liegt trotz des hohen Rangs seiner Familie im Dunkeln. Mutmaßlich erblickt der älteste Sohn des Stabskapitäns und späteren Majors Joachim Friedrich von Kleist und dessen zweiter Frau Juliane Ulrike am 18. Oktober als Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist im Brandenburgischen Frankfurt an der Oder das Leben. Die Stadt zählt um die Jahrhundertwende etwa 15 000 Einwohner. Der Dreißigjährige Krieg und die ihm folgende Pest hatten über 80 Prozent der Bewohner getötet.
Der Tod spielt schon früh eine Rolle. Als sein Vater stirbt, ist er elf, als die Mutter das Zeitliche segnet, vierzehn Jahre alt. Von den sechs Geschwistern stammen zwei Schwestern (Wilhelmine und Ulrike) aus der ersten Ehe des Vaters. Als er Vollwaise wird, dient er schon beim Militär und strebt eine Offizierskarriere an; sein Stammbaum verweist auf einige bekannte Militärs. Familie besitzt daher einen zweischneidigen Charakter für ihn.
1799 erfolgt der erste einschneidende Wandel, einer von vielen, die kommen werden; er entschließt sich zum Studium der Naturwissenschaften, vor allem der Physik in seiner Geburtsstadt. Philosophie erregt sein Interesse.
Lebenslang ringen in dem Stellvertreter für den modernen Menschen, dem homo oeconomicus, der Bedürfnis und Begehren zu verwalten hat, zwei etwa gleichstarke Prinzipien: die (preußisch-soldatische) Gefühlskontrolle und die romantisch-leidenschaftliche Idee des souveränen und autonomen Subjekts. Rationale Objektivität und Zweckmäßigkeit sind das Erbe Kants, Ahnung vom Unbewussten und Sentimentalität die Mitgift Rousseaus. Um die Jahrhundertwende bricht er das Studium ab, um eine Beamtenkarriere einzuschlagen und seine Verlobte Wilhelmine von Zenge zu ehelichen. Seine peniblen Ratschläge, wie sie sich zu verhalten hat („Denkübungen“), was er von ihr und der Ehe erwartet, sind trotz der Konservativismen seiner Zeit rigide. Alles, bis ins letzte Detail, ist geplant.
Ein Kutschenunfall Mai 1801 verändert alles; zeitlich koinzidiert er mit der intensiven Lektüre Kants, dessen Denken das Gebäude seiner Epoche, die Architektur der Frühaufklärung, in Frage stellt. Zweifel an seiner Bestimmung, aber auch der Tauglichkeit zur Ehe begleiten ihn für immer. Aus dem Lebensplan reift erst unbewusst, dann zielgerichtet, ein Todesplan.
Der Lebensplan von Kleists besteht in einer wissenschaftlich angelegten vernünftigen und nützlichen Existenz. Drei Zitate von Kleist vor der Kantkrise 1801 verdeutlichen dies.
„Tausend Menschen höre ich reden und sehe ich handeln, und es fällt mir nicht ein, nach dem Warum? zu fragen. Sie selbst wissen es nicht, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen. Sie bleiben für immer unmündig und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls. Sie fühlen sich wie von unsichtbaren Kräften geleitet und gezogen, sie folgen ihnen im Gefühl ihrer Schwäche wohin es sie auch führt, zum Glücke, das sie dann nur halb genießen, zum Unglücke, das sie dann doppelt fühlen.“4 „Ein freier, denkender Mensch bleibt nicht da stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Besseren.“ „Unaufhörliches Fortschreiten in meiner Bildung, Unabhängigkeit und häusliche Freuden, das ist es, was ich unerläßlich zu meinem Glücke bedarf.“ „In meiner Seele sieht es aus wie in dem Schreibtische eines Philosophen, der ein neues System ersann und einzelne Hauptgedanken auf zerstreute Papiere niederschrieb. Es wird Zeit, daß ich Ordnung schaffe und mich bilde.“5
Nach einem Intermezzo in Paris, der Schweiz und Königsberg, entscheidet sich von Kleist 1806 für die literarische Laufbahn und gegen das ins Auge gefasste konventionelle Leben. Karriere will er trotzdem machen, der Name verpflichtet.
Mit der sklavischen Hingebung an den Tyrannen Schicksal bleibt der Anspruch eines denkenden Menschen unvereinbar. Mit dem Bild eines Nomaden: „er bleibt nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt“ (An Ulrike Mai 1799) nimmt der künftige Schriftsteller seinen Werdegang vorweg, der über den Umweg Paris, der Schweiz, und Königsberg durch ganz Europa führt, erst zuletzt kristallisieren sich Dresden und Berlin als Schwerpunkte heraus. Zweimal wird er als Spion verhaftet.
Er muss früh gefühlt haben, dass man sich über das Schicksal erheben könne und sogar müsse. In den frühen Jahren ist er sicherlich auf der Suche nach Glück, neben Freiheit kommt kaum ein anderes Wort in seiner Korrespondenz so häufig vor.
Am Ende nimmt er das selbst erwähnte Zitat aus der Bibel „willst du das Himmelreich erwerben, so lege selbst Hand an“ (Matthäus13,1-35) allzu wörtlich. Doch wenn jemand im Leben nicht zu helfen ist, dann hilft er sich selbst in den Tod – dies entspricht der paradoxalen Logik und der Konsequenz.
Stefan Zweig stellt von Kleist als dionysischen Charakter in Zusammenhang mit seinem Zeitgenossen Hölderlin und Nietzsche, die er gleichfalls dämonische Gestalten heißt. Er urteilt in zweiten Band der Trilogie „Baumeister der Welt“ (1925): „Kleist weiß, wohin es ihn treibt – in den Abgrund.“6 Zweig verwendet dabei das Attribut „zugesperrt“ in Bezug auf verweigerter Rettung und Ausweg. „Kleist war überspannt im Sinne von zu viel gespannt, er war von seinen Gegensätzen ständig auseinander gerissen.“
Laut Dürrenmatt ist eine Geschichte erst zu Ende erzählt, wenn das schlechtmöglichste Ende erreicht ist.
Dieses Profil erfüllt von Kleist sicherlich. Vielleicht ist sein bekanntester Aufsatz „Über das Marionettentheater“ daher so sehr um Mitte, Maß, Natürlichkeit bemüht, weil sie den exzessiven Leben von Kleists fehlt. Exzess und Maßlosigkeit sind die Parameter, die sein Leben wohl am besten eingrenzen, weil dies geo-und topografisch nicht möglich erscheint.
Es ist, als ob er sich von Kleist durch Gewaltobsessionen von eignen Mordvisionen kathartisch reinigt. Zweig nennt von Kleist einen Gequälten seiner Leidenschaft, der keines Genusses fähig ist, sondern ein Nichterfüllter seiner heißen bunten Träume bleibt: „Was immer ihn bewegt, wird zu Krankheit und Exzeß; selbst die geistigen, die intellektuellen Neigungen zu Sittlichkeit, Wahrheit und Rechtlichkeit verzerrt sein Übermaß zu Leidenschaften, aus Rechtliebe wird Rechthaberei. ... Seine Schwermut drängt sich an die andern und sucht durch zehn Jahre vergebens Begleiter in den Tod – aber er wartet zehn Jahre. Sein Tatendrang, seine Kraft füttern nur seine Träume und machen sie wild und blutrünstig.“
Von Kleist neigt zum pleonastischen Pathos, aber auch einer sehr präzisen, geometrischen und teilweise bürokratischen Sprache. Seine Metaphorik kann kraftvoll wie grazil anmuten, sperrig langen Sätzen mit gehäufter Interpunktion folgen klare kurze Aussagen gleich Strichen in der Landschaft. Er besitzt Humor, Gespür für feinsinnige Ironie, aber auch groteske Gewaltfantasie. Anekdoten scheint er dem Soldatenleben