Ungläubig sah er, wie der Knabe ein viertes Mal erschien und hinter ihm trat gemächlich ein alter Mann in der Kleidung der Landbevölkerung ein. Weite schwarze Pluderhosen, die zu den Knöcheln hin immer enger wurden, kombiniert mit einem halblangen Sakko, das mit Zotteln und Stickereien verziert war, und um die Hüfte eine Schärpe gewickelt. Der Sergeant wäre nicht erstaunt gewesen, wenn darin ein Säbel gesteckt hätte. Und dann diese rote Pfanne auf dem Kopf! In welchem Jahrhundert lebte der denn?
Aber er stand in einer Haltung da, die Respekt einforderte. Dieser Mann verlangte Gehorsam.
Wie der Sergeant erfuhr, war das Arams Großvater, der regungslos im Eingang stand und mit finsterem Blick das Büro musterte, wobei er lediglich die Augen bewegte. Mit verschränkten Armen wartete er, bis dem Sergeanten mulmig zumute wurde.
Als es soweit war, eröffnete Gjysh ein ausführliches Begrüßungszeremoniell, erläuterte Arams Lebenslauf, beginnend bei den ersten Milchzähnen und endete: „Wenn mein Enkel zur Armee will, geht er zur Armee. Haben wir uns verstanden?“
Daraufhin wurde der Vorgesetzte aus einer obligatorischen Versammlung befreit, in der er sich wie jeden Tag anhörte, was er tun sollte oder tun müsste.
Mit dramatischer Miene trat dieser ein und betonte seine Wichtigkeit bei der Tagung des Komitees, das zur Umerziehung zum wahren Leben und zur Wahrnehmung der Pflichten gegenüber der Partei aufrief.
In einer wohldosierten Mischung aus Schmeicheleien und Drohungen trug Großvater sein Anliegen vor.
„Wir Genossen werden niemals davon ablassen, uns mit aller Kraft für den positiven Helden einzusetzen“, antwortete der Vorgesetzte eifrig. Endlich durfte er seine Fähigkeiten beweisen.
Da Arams Familie um seine Talente als Anführer wusste, empfand man eine Militärlaufbahn als die geeignete Wahl und sie meldeten ihn zur Aufnahmeprüfung einer Kadettenschule an. Der Vorgesetzte ging davon aus, dass Aram nie bestehen würde, und sah das Problem auf natürliche Weise behoben. Schließlich bestand nur einer von hundert Prüflingen, und die hatten weitaus bessere Voraussetzungen.
Aram bestand und sie steckten ihn in eine Kadettenschule in Kroatien.
Das Dorf sammelte erleichtert Geld für eine Fahrkarte. Ein wenig Disziplin und Struktur würden ihm nicht schaden. Zudem wuchs dieser Teufel unaufhaltsam zu einem jungen Mann heran, und sie alle hatten schließlich Töchter zu Hause.
Für Aram war die Zeit des Narren vorbei.
Überglücklich, mit gerade mal zwölf Jahren, nahm er sein Leben selbst in die Hand und zog auf seiner Heldenreise die nächste Karte.
Der Narr, Karte 0 der Heldenreise
Das Unterbewusstsein der Menschen unterscheidet sich in keinem Volk der Erde. Alle kennen die gleichen Märcheninhalte, verstehen dieselben Symbole und besitzen den identischen Archetypen.
Im Märchen schickt der König seine sieben Söhne los, um das Reich zu retten. Nur den naiven Jüngsten behält er zu Hause. Ausgelacht von den Brüdern zieht dieser trotzdem los. Die sieben Söhne scheitern, nur der Kleinste kehrt siegreich zurück.
Im Märchen ist es der Narr, der die Bewerber der schönen Königstochter besiegt. Es ist die Unschuld, die vom Prinzen geküsst wird.
Die Welt bietet demjenigen, der offen bleibt, viele Möglichkeiten, und Probleme werden häufig von Menschen gelöst, denen es niemand zutraut.
***
Mara
Auch meine Reise begann als Narr.
Unterschiedlicher hätten unsere Lebenswege nicht starten können. Für mich feuerten sie keine Salutschüsse ab, auch war ich nicht mehr geplant gewesen. Mein Vater freute sich trotzdem. Und meine Mutter? Ich werde es wohl nie erfahren.
In meiner Familie war Geld kein Thema. Wir hatten es. Wohlstand war für mich selbstverständlich, denn die anderen Kinder wohnten ebenfalls in großen Häusern, ihre Eltern waren ebenfalls Akademiker. Ich wuchs isoliert im Ghetto der Bessergestellten auf. Dass ich privilegiert war, wusste ich nicht.
Aber alle Kinder kennen Nöte, egal, wie viele Silberlöffel ihnen bei der Geburt in den Mund gelegt werden.
Dass andere Kinder hungerten, war mir nicht bekannt. Meine Probleme bestanden eher darin, meine klitzekleine Portion des verhassten Gemüses herunterzuwürgen.
Wir aßen auch nicht auf dem Fußboden vor einer offenen Feuerstelle, sondern speisten mit streng kontrollierten Tischmanieren an der nach den Regeln der Etikette gedeckten Tafel. Mittags weißes Leinen, Servietten mit Monogramm, edles Porzellan und Fingerschalen für das Obst. Abends leger mit farbigem Tischtuch und fröhlichem Gedeck. Im Hintergrund ertönten die Nachrichten im Radio, während wir Kinder antrainiert schwiegen, und anschließend erläuterte uns Vater die drohende Gefahr des dritten Weltkrieges.
Heute beherrsche ich mühelos beide Esssitten. Um dabei nicht völlig zu verrohen, benutze ich für meine Malzeit auf dem Fußboden das kostbare Service.
Für mich existierten keine Pflichten, außer zur Schule zu dackeln und zu spielen. Für alles andere hatten wir Personal.
Die ersten Jahre verbrachte ich in der väterlichen Bibliothek. Es gibt Gerüche, die vergisst man nie. Jede Buchhandlung versetzt mich zurück in meine Kindheit. Anfangs schob ich Bücher auf den Regalen nach hinten zur Wand. Am nächsten Morgen standen sie wieder akkurat aufgereiht an der Vorderkante, und ich durfte erneut mit meiner Arbeit beginnen.
Bald zog ich sie heraus, warf sie auf einen Haufen. Mit zunehmendem Alter inspizierte ich sie. Am liebsten jene, die für mich ungeeignet waren. Beinahe zwanghaft nahm ich diese immer wieder zur Hand. Bei den Bildern in Dantes Komödie über die neun Kreise der Hölle schüttelte mich wohliges Grauen. Doch im geschützten Raum der Bibliothek konnte ich mich den Schrecken des Lebens stellen, so wie es die Aufgabe der Märchen ist.
Mit der Zeit öffnete sich die Welt der väterlichen Bibliothek und das Leben außer Haus begann. Die Kindheit soll die Zeit der Unschuld sein, aber in Wirklichkeit ist sie eine harte Lebensschule. Wir mobbten, stritten unerbittlich, gaben Kriegserklärungen ab, Kinder rannten heulend nach Hause, wir schlossen Allianzen und brachen sie, schlossen neue Allianzen und vergaßen alles wieder.
Durch die Schulbibliothek bekam ich Zugang zu Kinderbüchern, aber um die Bücherregale in der Schule abzugrasen, brauchte ich nicht viel Zeit. Ich verschlang die Bücher, schlief mit ihnen ein, träumte von ihnen. Nur enttäuschte mich die für meine Generation vorgesehene Literatur etwas.
Mit viel Fantasie ausgestattet erschuf ich eigene Welten. Ich liebte es, mir Geschichten auszudenken, dachte eine neue Familie aus, gab ihr einen anderen Namen und ein anderes Leben, bevölkerte sie mit schwarzen Schafen und Geheimnissen.
Die Vorstellung, nicht ich zu sein, gehörte zu mir. In meiner Fantasie spielte ich an der Seite eines furchtlosen Jungen. Sein Haupt war bedeckt mit wildem, schwarzem Haar und meins mit blonden Härchen, er ritt auf einem Rappen, ich auf einem Schimmel. Die Metapher schwarz-weiß war mir nicht bekannt, sie entsprang dem Unterbewusstsein.
In meinen Träumen war ich von hoher Geburt und er von geringem Stand, was genug Stoff für glückliche Tagträume bot. Wir schworen uns, einander zu heiraten. Etwas anderes wäre nicht in Frage gekommen. Dabei ahnten wir, dass man uns Steine in den Weg legen würde, was alles noch viel romantischer erscheinen ließ. Meine Familie würde es nie gestatten, uns vielleicht sogar verstoßen. Herrlich.
Es war eine fantastische Zeit, die wir miteinander teilten; auf der Suche nach irgendwas, wovon ich nicht wusste, was es war.
Je älter ich wurde, umso realer fühlten sich diese Abenteuer an. Ich träumte sie nicht nur, ich lebte sie. Mein „Fantasienland“ lag im Osten. Die Männer kleideten sich mit langen Hemden, an der Taille