„Sehr gut. Lukas. Du möchtest in die Fußstapfen deines Vaters treten und Bundesrichter werden. Lobenswert.“
Lukas senkte peinlich berührt den Kopf.
„Wie immer präzise, Esther. Du wirst bestimmt eine ausgezeichnete Lehrerin.“
Der harte Kern unserer Clique bezweifelte das keinesfalls. Sie war jetzt schon gekleidet wie das Fräulein.
Und ganz zum Schluss knallte sie mir das Heft hin mit den Worten: „Du willst Autorin werden, hä? Dazu benötigst du aber mehr als nur die zwei halben Sätze, die du zustande bringst.“
Sie verstand sich nicht gut mit meinem Vater, was alles erklärte.
Leider glaubte ich ihren Worten und beschloss, mich einem Beruf zuzuwenden, der über bereits geschriebene Bücher verfügte.
Die mögliche Berufswahl interessierte uns ohnehin nicht ernsthaft. Sie war bloß eine natürliche Abfolge der Entwicklung: Schule, Beruf, Heirat, Kinder. Wir hatten sogar schon Namen für den Nachwuchs, sammelten Fotos von Brautkleidern für unsere Traumhochzeit, und erforschten in ersten Versuchen das andere Geschlecht. Dabei bewerteten wir die Jungs auf einer Skala von eins bis zehn.
Auf der Skala der Gegenpartei hatte ich einen gehobenen Stellenwert, aber mich fesselte nur der zukünftige Bundesrichter. Die anderen Mädchen auch. Wir prügelten uns beinahe darum, wer sich neben ihm aufhalten durfte. Lukas verteilte seine Aufmerksamkeit wechselnd, so dass ich früh in die Leiden der Liebe eingeführt wurde.
Im dritten Jahr stand ein Besuch bei der Berufsberatung auf dem Schulplan, in Begleitung der Eltern. „Eltern“ hieß in meinem Fall „Vater“. Mutter fühlte sich nie angesprochen.
Nach Tests, bei denen meine Stressresistenz geprüft wurde, da mir mein Vater über die Schulter guckte, bemerkte ein besorgter Psychologe: „Das Mädchen ist nicht geerdet. Sie zeichnet den Baum ohne Wurzeln. Und was die fehlenden Blätter bedeuten, kann ich nicht entschlüsseln.“ Besorgt schüttelte er den Kopf.
Da ich im Erarbeiten solcher Tests noch jungfräulich war, nahm ich an, meine künstlerischen Fähigkeiten würden getestet. Detailgetreu kopierte ich die Eiche vor dem Fenster und zufällig war es Winter, womit Blätter überflüssig wurden. Dieser Fehler unterlief mir kein zweites Mal. Von diesem Tag an konnten sich meine Bäume auf überlange Wurzeln verlassen.
„Was sind deine Wünsche, was hast du für Pläne?“, fragte der Beauftragte des BIZ.
„Ich möchte Bibliothekarin werden“, teilte ich bestimmt mit. Autorin fiel ja weg.
Entsetzt rief er: „Willst du wirklich ein vertrockneter Blaustrumpf werden, so eine alte Jungfer?“
Anscheinend hatte er traumatisierende Erfahrungen mit Bibliothekarinnen hinter sich. Als Jungfer wollte ich mit Bestimmtheit nicht enden, und auch meinem Vater gelang es nicht mehr, diese Aussage gerade zu biegen.
In der Stammbuchhandlung meines Vaters absolvierte ich daraufhin eine Schnupperlehre. Da ich mich sittenwidrig benahm, bekam ich die Lehrstelle nicht. Mein Vergehen war das Aufeinandertreffen mit meinem Nachbarjungen, der mich abends vor dem Geschäft abpasste. Er langweilte sich ohne mich. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das bereits Umgang mit Jungs pflegte, war für den Ruf der Buchhandlung nicht tragbar.
Es war wirklich an der Zeit, die 68-iger Revolution vom Stapel zu lassen.
Vater suchte sich eine neue Stammbuchhandlung, und ich wurde auf Anraten von Fräulein, wenn auch widerwillig, für die Aufnahmeprüfung des Gymnasiums angemeldet.
„Sorgen Sie dafür, dass Mara endlich lernt“, war ihr Rat an Vater gewesen.
Ich? Lernen? Ja wann denn? Wie denn?
Über Jahre hatte ich es zustande gebracht, nur selten meine Hausaufgaben zu erledigen. Eigentlich bemerkenswert.
Ich bestand nicht und durfte das Fräulein noch ein weiteres Jahr ärgern.
„Mara, hör auf, mit dem Stuhl zu wippen. Konzentrier dich. Hast du nichts aus deinem Scheitern bei der Prüfung gelernt?“
Diesen Satz hörte ich vom Fräulein verlässlich bis zum letzten Schultag.
Weiterhin überraschte sie uns mit unangemeldeten Tests oder mit Arbeiten, für die wir keine Gelegenheit bekamen, uns vorzubereiten.
„Nehmt eure Deutschhefte hervor. Wir beschreiben den Traum der letzten Nacht“, eröffnete das Fräulein die Deutschstunde.
„Wieso wir?“, fragte ich meine Banknachbarin. „Schreibt die Kuh auch? Träumen Kühe überhaupt?“
„Mara! Willst du, dass ich deinem Vater melde, dass du den Unterricht störst?“
Wollte ich nicht. Meine Generation fürchtete noch die elterliche Strafpredigt.
Während Fräulein die Gänge auf und abschritt, damit alles seine Richtigkeit behielt, begannen wir, unseren Traum zu schildern.
Meine Kollegen verdrehten die Augen - mehr Tumult wurde nicht zugelassen – nur ich schrieb begeistert. In der vergangenen Nacht hatte ich von einem Jadeskarabäus geträumt, der sich im Besitz meiner Großmutter befand.
Er erschien mir oft im Traum und es fühlte sich nie wie eine Illusion an. Es fühlte sich an wie die Wirklichkeit - die Geschichte vom ersten Skarabäus.
Mein Name ist Majda und ich lebe zur Zeit des großen Pharao Horemheb I. Vor mir sehe ich den Tempel der hunderttorigen Stadt Theben.
Die Größe des Tempels und sein unermesslicher Reichtum beeindrucken mich zutiefst. Um mich herum drängen sich unzählige Personen aus allen Gesellschaftsschichten, Hautfarben und verschiedenen Sprachen nach vorne, die für ihre Geschäfte beten und Gott Amun danken, indem sie ihm Geschenke niederlegen. Diese Pracht, die wertvollen Schätze, der Duft der Öle und Weihrauch überwältigen mich. Priester mit Goldfäden durchwirkten Gewändern und Edelsteinen besetzten Kragen sorgen für Ordnung. Die Macht der Priester ist gewaltig. Sie deuten Träume, prophezeien Voraussagungen über die Ernte und warnen vor Katastrophen.
Auch ich bin hier, weil ich zu den Göttern beten möchte, damit sie mir meinen Gatten heil zurückbringen. Heute Morgen legte ich mir den besten Kragen um und salbte mich mit teuren Ölen, um die Götter nicht zu erzürnen.
Nachdem der alte Pharao gestorben ist - die Götter mögen ihm gnädig sein und ihm den Zutritt ins Land des ewigen Lebens gewähren - haben Unruhen das schwarze Land erreicht. Die angrenzenden Völker greifen uns an. So geschah es immer nach dem Tod eines Herrschers und so wird es immer sein, denn der Mensch ändert sich nie, nur seine Kleidung, die Art zu leben oder seine Sprache wechselt.
Mein Mann wird sie zurückdrängen. Er gilt als der fähigste Heerführer Ägyptens. Furchtlos wie ein Löwe ist er, bissig wie eine Schlange und misstrauisch wie ein Schakal. Nur zu mir ist er sanft wie eine Taube.
Bevor er mich verließ, übergab er mir ein Geschenk. Ein Skarabäus aus wertvollem Jadestein, den ich jeden Tag ehre, mit teuren Ölen salbe und in meinem Grab unter den Leinenbinden auf dem Herzen tragen werde.
Meine Eltern sind nicht reich, aber auch nicht arm, wir besitzen Nahrung, Kleidung und Ehrfurcht vor den Göttern. Mein Vater arbeitet als Schreiber von Totenbüchern. Ein anständiges Totenbuch kostet sechs Monatslöhne, aber seine Kunden sind nicht in der Lage, viel zu bezahlen, denn sie haben nicht genug zum Leben. Mein Vater hat Mitleid mit ihnen. Wer kein Totenbuch im Grab hinterlegt, hat keine Anleitung, wie sein Leben im Jenseits verlaufen soll. Er braucht diese Zaubersprüche und Beschwörungsformeln gegen die bösen Geister auf der Reise ins ewige Leben.
Durch meine Heirat hat sich unser Dasein verbessert. Jetzt wohnen wir in einem Haus aus Stein mit etlichen Zimmern und nicht mehr in einer Lehmhütte. Meine Mutter bezahlt eine Wäscherin und Wasserträger, die ihr das beste Wasser aus dem Nil in die Küche tragen.