Der siebte Skarabäus. Ursula Arn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ursula Arn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752922622
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Nacht auf einer Bank wurde.

      Ohne jegliches Schuldgefühl trudelte er mit zwei Tagen Verspätung in der Schule ein. Nicht ganz freiwillig, die Polizei half ein wenig nach und bald wurde ihm klar, dass seine erste Lektion nicht wie erwartet am nächsten Morgen im Schulzimmer stattfand.

      Trotz der Abstrafung wähnte er sich im Paradies. Lediglich ein wenig Bauchschmerzen plagten ihn zu Beginn, da er zu hastig und ohne Grenzen aß. Es dauerte seine Zeit, bis er begriff, dass er sich jeden Tag satt essen durfte.

      An einem Tisch zu sitzen hatte er bereits beim Onkel gelernt, doch das Besteck hielt er wie Heugabeln in den Händen. Er verstand es besser zu kämpfen, als mit Messer und Gabel umzugehen.

      Was die verwöhnten Kinder aus gutem Hause als eine düstere Anstalt ansahen, bewunderte er als üppige Pracht. Die Schüler weinten in der Nacht, er schlief selig, denn mit 80 Kindern in einem Raum zu liegen, kannte er bereits. Bitter klagten die Schüler über die harten Betten mit Kissen aus Stein.

      „Willst du meins? Es fühlt sich an wie eine Wolke. Ich schlafe auch gerne auf dem Boden“, bot er ihnen an.

      Die Tradition der Älteren, Neuankömmlinge zu piesacken, schaffte er gleich in der ersten Nacht ab.

      Weil ihnen seine wilden Locken missfielen, drangen sie in der Nacht in den Schlafsaal der Jüngsten ein. Sie waren zu fünft. Vier sollten ihn festhalten, während ihm der Fünfte den Kopf rasierte. Es kam anders. Am nächsten Tag versuchten sie, ihre mehr oder minder starken Blessuren zu verheimlichen. Aram allerdings hatte kaum welche, und seine Locken wurden zu gegebener Zeit ordentlich vom Hausfriseur gestutzt.

      Durch den neu erlangten Respekt bei seinen Kollegen besaß er ein hochgehandeltes Tauschmittel: Kampfbereitschaft gegen schulisches Wissen.

      Jugendliche aus allen Landesteilen und kulturellen Schichten waren seine Kameraden. Von ihnen lernte er, Dialekte auseinanderzuhalten und nachzusprechen, eignete sich Redewendungen an, die weder in Wörterbüchern zu finden waren, noch sich übersetzen ließen. Er verinnerlichte sich Sprachmelodien, die auf keiner Universität gelehrt wurden, die jedoch unverzichtbar waren, wollte er als einer von ihnen gelten.

      Dank seiner Beobachtungsgabe erkannte er, dass jede Herkunft eine eigene Körpersprache auswies. Aram begann, die Ausdrucksweise und Haltung anderen Kinder zu imitieren, wobei er sein schauspielerisches Talent entdeckte.

      Wie ein Schwamm sog er alles Wissen auf. Sein Verstand arbeitete doppelt so schnell wie der der Mitschüler, und Informationen verschlang er wie andere Süßigkeiten. Aus jeder beantworteten Frage entstanden vier Neue. Er lernte nicht für die Schule, er lernte für sich. Auch wenn er sich von den anderen abzuheben begann, weil seine Leistungen bald über dem Durchschnitt lagen, so unterschied ihn in der körperlichen und charakterlichen Entwicklung nichts von den anderen Jungs. Auch er mühte sich mit den typischen Problemen seiner Altersgruppe ab: Pickel, Liebeskummer, Lehrer.

      Und bald wurde er zum stolzen Träger des wichtigsten Pokals: Er siegte im Wettbewerb als Frauenheld.

      Mit 18 Jahren schloss er die Schule ab, in der Kinder zu Soldaten gedrillt und ihnen eingeimpft wurde, dem Vaterland mit Hingabe bis in den Tod zu dienen.

      Aram absolvierte anschließend die Rekrutenschule, wobei er für zwölf Monate verpflichtet wurde. Ein Jahr lang unterwiesen sie ihn im perfekten Putzen.

      Im Osten lernen die Rekruten, Bügelfalten so zu bügeln, dass sie damit Zwiebeln schneiden können, die Schuhe so blank zu polieren, dass man sich darin spiegelt. Den Umgang mit Waffen beherrschen sie seit ihrer Kindheit. Ist Teil ihrer DNA.

      Im Westen lernen die Rekruten, eine Waffe zu laden, ohne sich dabei selbst zu erschießen. Ordnung zu halten beherrschen sie seit ihrer Kindheit. Ist Teil ihrer DNA.

      Im Militär wird beides benötigt.

      Sie polierten, marschierten, salutierten und versuchten, irgendeinen Sinn darin zu finden. Aram langweilte sich. Exerzieren kannte er bereits seit seinem 12. Lebensjahr.

      Ein weiterer Schwerpunkt seiner Ausbildung war das Abzählen der Granaten in russischer Sprache. Sie zu handhaben bereitete weniger Schwierigkeiten, einfach wie Steine werfen. Eine Technik, die seit Jahrhunderten im Osten perfektioniert wurde.

      Mit 19 Jahren begann Aram in der Militärakademie mit der Ausbildung zum Elitesoldaten und Offizier. Diese war anspruchsvoller als das Polieren von Schuhen.

      Die Werkzeuge, die ihm der Magier mitgab, hatte er getestet und seinen Platz gewählt. Jetzt beanspruchte er einen Meister, der ihn ausbildete.

      Die Hohepriesterin, Karte II der Reise

       Die Symbolik führt uns zurück in eine Zeit, in der sich die Menschen dem Ursprung nahe fühlten. Damals herrschte SIE, die große Göttin, Mutter allen Lebens, Herrin der Tiere, des Korns und der Fruchtbarkeit.

       Das Männliche gilt für das Trennende, das Weibliche für das Verbindende. Weibliches Denken ist mit Gefühlen verbunden, männliches auf Eindeutigkeiten ausgerichtet.

       Es ist die Karte des Unbewussten, der Heiler und Seher. Die Karte der nicht erklärbaren Kräfte, der Weisheit, der Intuition. Die hohe Priesterin ist empfänglich und meditativ. Sie ermahnt uns, aus der Tiefe der Seele zu schöpfen. Aus der Stille vermögen wir die Probleme, mit denen wir kämpfen, in einem anderen Licht zu sehen. Sie erschließt verborgene Talente und Gaben.

      ***

       Mara

      Die Oberstufe bescherte uns eine Lehrerin, die wir als unausstehlich altmodisch empfanden. Für sie waren Frauen in Hosen der Beginn des Zerfalls von Anstand, und entschlossen kämpfte sie gegen die Invasion der Sittenlosigkeit. In Jimmy Hendrix sah sie den Anti-Christen, der den Untergang des christlichen Abendlandes einläutete. Die Jugendzeitschrift „Bravo“ galt als ein Werk des Teufels.

      Sittsam rodelten wir im Winter im Rock den Hang hinunter, und auf der Schulreise kletterten wir im Faltenjupe über einen Gletscher, wobei uns die Jungs den Vortritt ließen.

      Ich beschloss, sie nicht zu mögen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Zum Glück bestand die Schule nicht nur aus dem „Fräulein“, wie wir sie respektvoll anreden mussten. Da ich dort auch auf Freunde traf, fand ich sie ganz erträglich. Zudem bot sie mir die Gelegenheit, mir mein Soll an sozialen Begegnungen zu erarbeiten, weil mir das Leben in den Büchern dazu keine Zeit ließ. Während den Schulstunden pflegte ich mein Netzwerk, indem ich Zettelchen herumreichte.

      Die Schulfächer Geschichte und Deutsch entschädigten mich für weitere Unannehmlichkeiten. Bei den übrigen schaltete ich ab, bis das Gesicht der Lehrerin verschwand und nur noch Geräusche zu hören waren. War die Stunde um, hatte ich mich mit Helden umgeben und mich im Labyrinth meiner Gedanken verloren.

      Fremdsprachen hasste ich und fand wirklich keine Zeit, Vokabeln zu büffeln. Meine Fantasiewelt und Bücher beanspruchten mich bereits rahmenfüllend. Ich hatte begonnen, richtige Romane zu lesen. Die von der Art, die möglichst niemand bei mir finden sollte.

      Die erzwungenen Samstagnachmittage bei den Pfadfindern empfand ich als verlorene Zeit, und auch andere organisierte Gruppentätigkeiten waren für mich höchst lästig.

      Tagträume gehörten weiterhin zum Alltag, aber nicht mehr ausschließlich. Ich vollzog eine Abspaltung. Danach zwei Existenzen zu führen, war zeitaufwendig.

      Schreiben liebte ich. Fräuleins Aufforderung, unsere Berufswünsche auszudrücken, befolgte ich begeistert.

      Tags darauf retournierte sie die Aufsätze. Damit ließ sie uns nie lange im Regen stehen. Wie hätte sie auch sonst ihren Abend füllen sollen?

      Mit dem Stapel Hefte in der Hand schritt sie den Gang zwischen den Bänken entlang, bekleidet mit dezentem Twin-Set aus Kaschmir, das von einer Perlenkette veredelt wurde und kariertem Faltenrock. Die Füße in beigen Gesundheitsschuhen, das Haupt gekrönt mit Lila getönter, exakt modulierter Frisur, die