Der siebte Skarabäus. Ursula Arn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ursula Arn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752922622
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blutig ausgetragen wurden und kein Ende fanden, selbst wenn sich niemand mehr an die Ursache erinnerte.

      Nach sorgfältiger und längerer Überprüfung der Lage - Bauer weg, Großvater beschäftigt - schätzte Aram das Wagnis als vertretbar ein und kletterte auf den Zwetschgenbaum. Schon das Buch Genesis lehrt uns: Keine Frucht schmeckt so süß wie die Verbotene.

      Mit sich zufrieden verschlang er den Fruchtzucker, der ihm so viel bedeutete wie den westlichen Kindern Gummibärchen.

      Satt und ermüdet durch den begehrten Adrenalinkick lehnte er sich an den Stamm zurück, träge schaute er sich um und sah seine Strafe vorrücken. Dutzende Schlangen krochen über die Wiese und legten sich bei den Baumwurzeln nieder. Immer mehr und noch mehr! Die Grashalme bogen sich, als würde der Wind durch sie hindurch blasen, und am Fuße des Stamms brodelte es.

      Bisher kannte er kein Grauen, aber jetzt gefror ihm das Blut in den Adern. Weinend rief er nach seinem Großvater, aber der war ja beschäftigt, wie er sich zuvor vergewissert hatte.

      Die unschuldige Zeit der Karte „der Narr“ war vorüber. Endlich hatte er die Gefahr erkannt.

      Aram liebte die Schule und seinen Bleistift, den er bis zum Stummel abnutzte, da der Ersatz bereits ein finanzielles Problem darstellte. Wissbegierig übersprang er einige Klassen, sah aber bald den Sinn nicht mehr, anwesend zu sein. Was er in der Schule lernte, passte auf eine Briefmarke. Lieber nutzte er die Zeit, um in die Freiheit zu verschwinden, denn davon hatte er immer weniger. Je kräftiger die Kinder wurden, umso mehr mussten sie arbeiten. Die Schule unterrichtete morgens die eine Hälfte der Kinder, nachmittags die andere, damit immer genug Helfer auf dem Feld zur Verfügung standen.

      Zweimal täglich stand Großvater unter der Haustüre und kontrollierte den Exodus in Richtung Schule. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Es fehlen drei. Holt sie her!“

      Aram stand mit unschuldigem Ausdruck neben dem Großvater und verschwand erst, nachdem er die Schule betreten hatte. Keiner, auch nicht seine Lehrer, fanden es für angebracht, seinen Großvater darüber zu informieren.

      Nur zu den Prüfungen erschien er pünktlich. Er nutzte jede Gelegenheit, einem Kampf ins Auge zu sehen, auch wenn dieser mit dem Bleistift ausgetragen wurde.

      Jeden Abend, wenn die Kinder vor die Wahl gestellt wurden: Moscheebesuch oder Hausaufgaben, arbeitete er durch, was ihm seine Vasallen überreicht hatten. Auch seine Geschwister und Cousins erledigten ihre Hausaufgaben sehr sorgfältig. Notfalls auch zweimal.

      Die Familie erzog ihren Nachwuchs nicht religiös und der Islam wurde vom Staat weder gefördert noch unterbunden. Albanien betrieb seit jeher einen humanen Islamismus. Großvater benutzte die Moschee lediglich als erfolgreiche Erziehungsmaßnahme.

      Zu seinem Ärger teilten sie ihm die Verantwortung der Büffel zu. Da kein Weg daran vorbei führte – und er hatte alle Ausreden getestet - trieb er die Viecher schlecht gelaunt vor sich hin, bis er sich außerhalb des Radars von Gjysh wähnte.

      „Unwürdig!“, schimpfte er vor sich hin, als er durch die brütende Hitze lief und mit dem Hirtenstab auf die Büsche einschlug.

      Ihm gebührte ein Schwert, nicht dieser läppische Stab.

      Beleidigt legte er sich in den Schatten eines Granatapfelbaumes. Wenn sie ihn wenigstens aus dem Hinterhalt angreifen würden. Aber sein unbesiegbarer Ruf war ihm ja vorausgeeilt.

      Bei seiner Arbeit trug er eine andere kostbare Waffe mit sich. Die wenigen Bücher, die das Dorf besaß, waren in seinem nicht ganz legalen Besitz. Aus Langeweile multiplizierte er im Schnellfeuer die willkürlich aufgeschlagenen Seitenzahlen oder studierte anhand des Korans Arabisch. Die Geschichten ließen Phantasien treiben und er träumte von Heldentaten in künftigen Schlachten, bis ihn der Schlaf hinterrücks überfiel; und die Büffel verschwanden.

      Viele gute Ausreden tischte er danach wild gestikulierend den Onkeln auf, damit sie ihm bei der Suche nach den verschwundenen Tieren halfen.

      Doch leider glaubten ihm bald nur noch die Frauen vorbehaltlos.

      Mit 12 Jahren beendete Aram das 8. Schuljahr und sah in eine Zukunft, die ihm nicht gefiel. Getrieben von intellektueller Langeweile fielen seine Streiche immer heftiger aus. Mit zunehmendem Alter befriedigten ihn auch seine Waffen nicht mehr, und er modernisierte das Arsenal, indem er Raketen bastelte.

      Für den Anfang mal drei Stück. Die Prototypen starteten wie erhofft, änderten aber unerwartet ihre Flugbahnen und landeten auf Nachbars Scheune und dessen Feld, das kurz vor der Ernte stand.

      Zwei Tage lang verdunkelte eine schwarze Wolke das Dorf und Aram floh in den Wald, was als Schuldeingeständnis gewertet wurde. Immer wieder sah er sich gezwungen, sein Versteck zu wechseln, da ihm weinende Tanten und brüllende Onkel zu nahekamen. Doch der Hunger überstieg die Angst vor Repressalien, und so schlich er in einem großen Bogen und mit einer guten Ausrede im Kopf nach Hause. Sie überzeugte nicht.

      Die Männer des Dorfes richteten die Scheune wieder auf, jeder spendete von seiner Ernte, was er entbehren konnte und Aram beschloss, den Ort zu suchen, wo ihm beigebracht wird, wie man eine anständige Rakete baut.

      Rechtzeitig hörte er, dass in der nahen Stadt ein Rekrutierungsbüro propagierte: „In der Armee lernt ihr fürs Leben“. Lernen war für ihn noch verlockender als das Klauen von Zwetschgen.

      Zum ersten Mal verließ er das schutzbietende Dorf, in dem Gefahr höchstens von einem hungrigen Bären ausging oder von einem Nachbarn, der sein Gewehr reinigte.

      Was für eine unglaubliche Stadt! Hier gab es Autos, die nicht auseinanderfielen. Er nahm sich vor, später eins zu testen.

      Und diese seltsamen Menschen! Wozu stellten die sich in Reihen auf? Vorsichtig näherte er sich auf gesicherten Umwegen der Menschenschlange und vernahm, indem er tat, als sei ihm bereits alles klar, dass es dem Besitzer dieses Musikgeschäftes gelungen war, Kopien von Beatles-Schallplatten anzubieten. Von was? Er kannte weder Schallplatten noch Beatles.

      Das Rekrutierungsbüro fand er ohne Schwierigkeiten. Es befand sich am Ende der einzigen großen Straße, die schon jetzt in der Hitze flimmerte. An den Schaufenstern prangten Parolen wie „Arbeit, Erziehung, Wachsamkeit“ und die Auslagen warben für Nudeln, Shampoo, Parteitreue. Im Fenster des Rekrutierungsbüros las er:

      IN DER ARMEE LERNT IHR FÜR`S LEBEN. Na also!

      Im Büro saß ein gelangweilter Sergeant und rauchte wie beinahe jeder Landsmann. Eine Zigarette in der Hand zu halten ist ein Symbol der Volkszugehörigkeit.

      Vielleicht nahm in diesem Land der Vater seinen halbwüchsigen Sohn zur Seite und erklärte ihm feierlich: „Mein Sohn. Mit dieser Zigarette wirst du zum Manne. Mit dieser Zigarette gehörst du zu uns.“

      Den Gebrauch einer Schusswaffe konnte er ihm schließlich nicht beibringen, denn hierzulande lernen das die Knirpse bereits im Kindergarten.

      Aram baute sich vor dem Sergeanten auf und unterbrach diesen beim Nichtstun.

      Wie in allen sozialistischen Staaten erhielt der Bürokrat, der in der untersten Schublade der Hierarchie gelandet war, keine nennenswerte Beschäftigung.

      Tag für Tag saß er seine Zeit ab, die unvermeidliche Zigarette zwischen den Lippen. Den heutigen Antrag für den Erhalt eines Antragsformulars, mit dem er ein Antragsformular anfordern durfte, hatte er bereits an den Vize-Parteivorsitzenden weitergeleitet.

      Nach Erledigung dieser schwierigen Aufgabe hatte er sich zwei, drei Zigaretten verdient, und der Junge störte ihn dabei.

      „Was willst du?“, blaffte er ihn an.

      „Ich möchte Soldat werden.“

      „Gut, schön. Komm später wieder.“ Mit einer Handbewegung wedelte er den lästigen Besucher weg.

      In der Woche darauf stellte Aram sich wieder vor den Sergeanten und salutierte. Das hatte er sich vorsorglich schon einmal beigebracht.

      „Du willst in die Armee? Ausgezeichnet. Komm wieder, wenn du 18 bist.“