Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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Bauernhöfen.«

      Nach einem kurzen Atemholen beendete er seinen Bericht.

      »Das war´s. Nun kennst du Siebenreich.«

      Als er geendet hatte, nickte er, lud sie damit ein, ihm Fragen zu stellen. Dennoch blockte er auch ihr neuerliches Nachhaken nach seinem Weg ins Orkland ab.

      Sie schwieg, wollte das Ganze in einem Stück verinnerlichen und brauchte Zeit. Für den Moment hatte er ihr genug erzählt.

      Er ließ sie in ihrem Grübeln und erlaubte ihr einen letzten langen Blick auf die skizzierte Landkarte, in die er noch an ihrem ungefähren Aufenthaltsort einen Kiesel gelegt hatte. Als sie den Blick hob und nickte, verwischte er die Karte, raffte ihre Siebensachen zusammen und setzte sich in Bewegung. Sie folgte ihm, den Blick wenige Schritt vor sich an den Boden geheftet. Langsam fand sie sich zurecht.

      7.

      Die Sonne bewegte sich auf die Gipfel der Abendberge zu, um sich zur Ruhe zu begeben, als Mike und Julia den Wald erreichten.

      Julia rief sich die Astgabel für den Schlafplatz ins Gedächtnis. In Erwartung des Abenteuers rieb sie sich zuversichtlich die Hände. Nun überflügelte doch die Neugier ihre Angst. Zu ihrer gelösten Stimmung trug im Wesentlichen die Harmonie des Waldes bei. Irgendwo hämmerte ein Specht sein Abendessen aus der Rinde, das Farbenspiel des Herbstlaubes widersetzte sich der Dämmerung und hielt die anstürmenden Grautöne auf Distanz, der Waldboden war samtig weich und federte ihre Schritte ab. Wenn sie die Lider schloss, stellte sie sich einen Augenblick lang vor, sie ginge daheim über den hochflorigen Teppich in ihrem Wohnzimmer. Unerbittlich jedoch holte jeder Augenaufschlag sie nach Siebenreich zurück.

      »Nie direkt am Waldrand! Viele Waldläufer machen den Fehler, sich einen Schlafbaum direkt am Waldrand zu suchen. Von da aus haben sie natürlich den besten Blick«, gab er zu. »Der Fehler besteht darin, dass auch Feinde die Bäume dort als erstes untersuchen und die Waldläufer mit großer Wahrscheinlichkeit aufstöbern. Besser sind Bäume in der zweiten oder dritten Reihe. Meistens sind die nicht so markant, und man wird nicht so schnell darauf aufmerksam. Aber auch von da aus ist das Gelände gut zu überschauen.«

      Er deutete auf einen Baum ein paar Schritte entfernt.

      »Der ist gut.«

      »Wieso gerade der? Der steht doch ganz schräg.«

      »Alle Bäume dieser Art wachsen so. Und so kommen wir auch leichter hinauf.«

      »Solche Bäume habe ich noch nie gesehen«, staunte Julia und schickte ihren Blick von den mannstarken Wurzeln den gut sechs bis sieben Meter dicken Stamm hinauf in die Krone. Wie weit sie aufragte, konnte Julia nicht einmal erahnen, das Gewirr der Äste schien unendlich weit zu reichen.

      »So hoch wird er mich hoffentlich nicht jagen«, schoss es ihr durch den Kopf. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie begann ja schon zu zittern, wenn sie sich über ein Treppengeländer beugte und zwei Stockwerke nach unten schaute.

      Die meterdicken Äste standen versetzt zueinander beinah waagrecht vom Stamm ab. Der Wuchs erinnerte eher an eine Blattpflanze als an einen Baum, denn die verdickten Astansätze am Stamm ähnelten Blattstielen, auf ihrer Unterseite gebogen und oben glatt oder gar nach innen gewölbt, wie Julia an weiter talwärts stehenden Bäumen erkennen konnte. Sie würden, so hatte Mike ihr erklärt, ihnen Lager und Deckung bieten. Die Früchte auf dem Boden ringsum glichen übergroßen Kastanien, nur standen die Stacheln dichter, etwa wie bei Maronen oder Esskastanien. Neugierig hob sie mit festem Griff eine auf. Als die harten Härchen ihre Haut durchdrangen, zuckte sie zusammen. Sie zitterte. Was, wenn sie ein Nesselgift injizierten wie Seeigel? Der Schmerz blieb aus, es war nur der Schreck gewesen. Unwillkürlich wischte sie sich mit dem Unterarm über die Stirn, obwohl da nichts war. Schüchtern blickte sie zu ihrem Gefährten und stellte erleichtert fest, dass er von ihrer Unachtsamkeit nichts mitbekommen hatte.

      »Da willst du aber nicht wirklich rauf?«

      »Nicht ich, wir!«

      »Ohne mich!«

      Julia trat einen Schritt zurück, um ihren Entschluss glaubhafter zu machen.

      »Oh, bist du tapfer! Keine Angst vor Wölfen?«

      »Die gibt´s doch hier gar nicht!«

      »Willst du´s ausprobieren?«

      Die Antwort wartete er gar nicht mehr ab. Er beschäftigte sich schon mit den Vorbereitungen.

      Er nahm den Tornister vom Schlitten ab und schob mit dem Fuß den Schlitten so weit unter ein Gebüsch, dass er nicht mehr zu sehen war. Aus dem Rucksack zog er eine fingerdicke Leine, die fast über ihre gesamte Länge in regelmäßigen Abständen Knoten aufwies. Beide Seilenden warf er nacheinander über den untersten Ast, der aus der Oberseite des schrägen Stammes herauswuchs, sie lagen noch ein gutes Stück auf dem Laubboden auf. Er zog sie durch die herunterhängende Schlaufe und sicherte so das Seil gegen Durchrutschen. Ein Ende knotete er um die Trageriemen des Tornisters. Als er fertig war, erklomm er mit kleinen Schritten die Oberseite des schrägen Stammes. Beide Seilhälften fasste er mit den Händen zusammen und hangelte sich von Knoten zu Knoten. Die schartige Rinde verhinderte ein Abrutschen, und der Zug seiner Arme brachte ihn zügig nach oben. Er schwang sich auf den Ast, zog den Tornister hoch und verkeilte ihn in einer Astgabel. Dann kletterte er wieder dem Waldboden entgegen.

      »Wir gehen gleich hoch «, erklärte er der verdutzten Julia. »So hinterlassen wir hier unten weniger Spuren. Und unsere Witterung verbreiten wir von dort auch schwächer. Essen können wir dann oben.« Er lachte sie an. »Ich verspreche dir ein Galadinner mit unübertroffener Aussicht.«

      Julia nickte nur. Sie war wenig überzeugt.

      Weniger Spuren? Nun sah sie ihn genau das Gegenteil von dem tun, was er ihr noch vor einem Atemzug gepredigt hatte. Entgegen seiner eigenen Aufforderung, Spuren zu vermeiden, war er an einen Baum in vorderster Reihe am Waldrand getreten und leerte seine Blase.

      »Hattest du nicht eben gesagt, dass, äh, Witterung …«

      »Solltest du auch. Es ist nicht nur wegen der Bequemlichkeit. Vom Baum runter pinkeln ist nicht gut. Erstens hast du keinen sicheren Stand, und zweitens verrät der Geruch deinen Schlafbaum. Zumindest den Bären und Wölfen. Oder den Orks, wenn sie Hunde dabei haben. Urin an einem anderen Baum lenkt von deinem ab, und dein Versteck bleibt unerkannt. Vielleicht ziehen die Orks auch weiter, weil sie ja nicht wissen, wann du an den Baum gemacht hast.«

      Das schien ihr sehr weit hergeholt, doch verzichtete sie auf eine Erwiderung. In Anbetracht der bevorstehenden Nacht in schwindelnder Höhe machte sie es ihm nach. Sie suchte sich einen Baum weiter im Wald, hinter dem er sie nicht sehen konnte.

      Wieder zurück, sah sie ihn fragend an. Allein käme sie nie nach oben. Und falls sie mit seiner Hilfe hinaufkäme, so würde sie unvermeidlich abstürzen. Das wusste sie. Nach ihrer anfänglichen Neugier hoffte sie nun inbrünstig auf eine andere Lösung. Er schüttelte den Kopf. Kein Problem. In einer weiten Schlaufe zog er die Leine unter ihren Achseln hindurch und verknotete sie vor ihrer Brust. Nun gab es kein Zurück. Ihr Herzschlag wurde schneller, ihr war schwindlig. Sie würgte, gleich musste sie sich übergeben. Gerade hatte sie sich zur Seite gedreht und wollte sich am Baum abstützen, als sie seine Hände auf ihren Schultern fühlte. Einen Moment später ließ er auf einer Seite los, drückte ihr Kinn hoch und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

      »Du kriegst das hin. Du läufst auf dem Stamm. Denk einfach dran, dass ich dich von oben ziehe. Du kannst nicht fallen. Du bist angebunden.«

      »Und wenn ich oben bin?«

      »Bist du immer noch angebunden. Die ganze Zeit. Fertig?«

      Trotz ihrer Überzeugung eines bevorstehenden Unglücks war sie zu keiner Abwehr fähig. Ihre Panik wollte sie ihm keinesfalls eingestehen. So nickte sie zaghaft. Es sah nicht aus, als sei sie überzeugt. Es war ja auch eine Lüge.

      Sie fühlte sich unbequem, obwohl die