Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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Seite: gerade war das Mädchen von eben in einer längeren Lücke zwischen den Passanten wieder aufgetaucht. Fritz sah das Mädchen, sah den Blick und das enttäuschte Gesicht, verstand vollkommen, was vorgegangen war, und schaute wieder zu Boden. Ein müder Trotz kam in ihm auf, und als die anderen nicht lange danach aufbrachen, behauptete er, er habe noch etwas zu erledigen, er komme später nach.

      * * *

      Was für ein schöner Tag war das doch gewesen!

      Alles hatte gestimmt: Das warme, lachende Sommerwetter, die gelockerte Schuldisziplin, die originelle, sportlich herausfordernde Aufgabe, die Bewegung im Freien in ungewöhnlich verträglichem und gutgelauntem Einvernehmen zwischen den Freunden. Zwei, drei Kinder außer Fritz (aus tiefer Not ... so müde vom Seufzen!) hatten sich abgesetzt, um noch irgendwelchen Plänen oder Verpflichtungen nachzugehen. Der größte Teil der Gruppe aber zog nun geschlossen nachhause, aufgedreht und ausgelassen lachend (Spieße und Pfeile sind ihre Zähne), schwatzend (und ihre Zungen scharfe Schwerter), mal hüpfend, mal trödelnd; und mehr als ein Passant gesetzteren Alters oder nüchternerer Stimmung blickte sich missbilligend (ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute) nach ihnen um.

      Auch Johannes beteiligte sich am allgemeinen Geplauder und Palaver, am Resümieren der Erlebnisse, am Gelächter; und doch wurde er ein unterschwellig rumorendes, unbequemes Gefühl (aber nun bist du es, mein Gefährte, mein Freund...) nicht los, das all diese Aufgeräumtheit beständig unterminierte; es war, als ob er, ohne zu wissen warum, (...die wir freundlich miteinander waren) zutiefst unzufrieden mit sich selbst wäre.

      Dabei hätte er doch allen Grund zum Gegenteil gehabt: Endlich wieder voll angenommen in der Gruppe, einbezogen und seinen Beitrag leistend zum Gelingen der heutigen Unternehmung (mein Herz verdorrt wie Gras); dazu die Aussicht, in ein paar Tagen mit einem ausgezeichneten Zeugnis aus der Schule auszuscheiden und sich mit neuem Elan (Asche esse ich wie Brot) der auf ihn wartenden Herausforderung stellen zu wollen und zu können - und dennoch: Wer wird bestehen?

      Längst hatten die Kinder den Bereich des Stadtzentrums hinter sich gelassen, auch die bürgerlichen Wohnviertel zwischen diesem und ihrem eigenen Stadtteil durchmessen (sei nicht ferne, denn Angst ist nahe!). Der Himmel des Sommerabends, an dem immer zahlreichere Sterne das tiefer werdende Nachtblau durchbrachen, warf nun schon fast nichts mehr von seinem abnehmenden Leuchten in die dunkelnden Straßen herab. (Du gibst meinen Schritten weiten Raum, dass meine Knöchel nicht wanken, und stellst mich auf meine Höhen. Gelobt sei mein Schild und meine Stärke!)

      Plötzlich fuhren alle mitten in ihrer fröhlichen Unbeschwertheit zu Tode erschrocken zusammen: Wie ein gellender Schrei zerriss das Warnsignal eines Vorortzuges, dessen Übergang nur noch wenige Meter vor ihnen (ich schreie, aber Hilfe ist fern) die Straße querte, die Stille, die um ihre Lebhaftigkeit herum wie um eine isolierte eigene kleine Welt eingekehrt war (deine Schrecken erleide ich, dass meine Seele vor Angst verzagt) und die mächtige schwarze Lok stampfte, ihre klappernden Waggons im Schlepptau, dröhnend und erderschütternd vorüber, schlug ihnen kohlen-, teer- und rauchgeschwängerte heiße Luft um die Ohren.

      „Du meine Güte, hab ich mich erschrocken!“, ließ sich Elsas Stimme (Furcht und Zittern und Grauen hat mich überfallen) kleinlaut hören , woraufhin ihr mit „Und ich erst!“, „Mir klopft jetzt noch das Herz bis in den Hals!“, „Und mir zittern ordentlich die Knie!“ von allen Seiten beigepflichtet wurde (Aus der Tiefe schrei ich... warum hast du mich verlassen?)

      Nach und nach beruhigten sie sich wieder und lachten über den unnötigen Schrecken, aber (wer so daliegt, wird nicht wieder aufstehen), als sie nun weitergingen, um den Rest des Heimwegs zurückzulegen, wollte die überschäumende Laune von vorhin nicht mehr aufkommen. Das letzte Stück gingen sie schweigsam, den Blick (o hätt ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!) auf den lange verweilenden rötlichen Schein gerichtet, mit dem sich das scheidende Licht nach Westen hin zurückzog.

      Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.

      In Frieden leg ich mich nieder und schlafe ein....

      12. Fritz

      „Hannes!? - Hannes, wach auf!“

      Ein milchiger Lichtschein, Fransen und Fusseln, die vor seinen halbgeöffneten Augen zitterten.

      „Wach doch auf, Hannes!“ Die Mutter lehnte über ihm, ein Wolltuch über ihr Nachthemd geworfen, die Küchenlampe in der entfernteren Hand von ihm weg haltend, mit der anderen vorsichtig, aber nachdrücklich an seiner Schulter rüttelnd.

      „Was ist denn?“ murmelte er, widerwillig zu sich kommend, „Ist denn schon Morgen?“

      „Nein, Hannes. Du musst noch mal richtig aufwachen. Die Eltern von Fritz sind hier. Du musst mal rauskommen und mit ihnen sprechen.“

      „Fritz? Wieso? Was ist denn mit ihm?“ Er setzte sich auf, hängte sich seine Decke um und folgte seiner Mutter nach nebenan.

      In der Küche standen Herr und Frau Schabach. Johannes sah sie fragend an.

      „Der Fritz ist noch nicht nachhause gekommen“, erklärte Herr Schabach den späten Besuch, „Ihr seid doch alle zusammen weggegangen heute Mittag. Weißt du vielleicht, wo er stecken könnte?“

      „Aber - wie spät ist es denn?“

      „Schon nach Mitternacht.“

      „Oh!“, machte Johannes nur.

      Eine Hälfte von ihm war noch benommen vor Schläfrigkeit, aber die andere war blitzartig hellwach geworden, mit einer Helligkeit, die in den schlafbenebelten Teil heftig hineinfuhr und ihn zittern machte. Er zog die Decke enger um die Schultern. Das ungute Gefühl, das ihn den ganzen Heimweg über begleitet hatte, wuchs an zu einer unerklärlichen Furcht.

      „Also weißt du auch nichts?“ fragte Fritz’ Mutter.

      „Wir dachten bloß, weil du doch anscheinend sein spezieller Freund bist“, fügte der Vater hinzu, „Er redet ja von nichts anderem - wenn er mal redet - als von Johannes hier, Johannes da. Deshalb haben wir zuerst dich gefragt.“

      Er sah beschämt zu Boden - so besonders viel hatte er sich in letzter Zeit ja gar nicht um den Fritz gekümmert.

      „Ich weiß nur, dass er noch was zu erledigen hatte, deshalb ist er nicht gleich mit uns zurückgegangen. Wir...“ Er hielt inne - von dem Straßenbahnfahren erzählte er vielleicht doch besser nichts - „... wir waren in der Innenstadt, für eine Schulaufgabe. Und als wir nachhause wollten, hat Fritz gesagt, er muss noch was machen, er käme dann nach. Wissen Sie denn nicht, was er noch besorgen sollte?“

      „Nein, ich hab ihm nichts aufgetragen“, sagte der Vater; auch die Mutter schüttelte den Kopf.

      „Wir dachten bloß... Also, wir hatten mal wieder... Streit gehabt, gestern“ - jedem der Anwesenden war klar, wofür diese beschönigende Umschreibung stehen sollte - „und da dachten wir ... vielleicht wollte er nicht mehr heimkommen - ausreißen eben.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Ich hätt ja auch noch nichts unternommen heut Nacht. Der wird schon sehen, dass er nicht klarkommt, und von alleine wieder heim kriechen. Die Mutter hier hat aber keine Ruhe geben wollen...“ Die stand da mit zusammengepressten Lippen im bleichen Gesicht, und dem Mann merkte man an, dass er mit seiner demonstrativ groben Unbekümmertheit nur überspielen wollte, wie beunruhigt er selbst doch eigentlich war.

      „Also, wenn du auch nichts weißt, dann gehen wir wieder. Vielleicht fragen wir noch bei Köhlers nach, und Gulachs, mal sehen.“

      Was war nur geschehen? Was hatte Fritz angestellt? War ihm etwas zugestoßen? Oder war es tatsächlich so, dass das mit der Erledigung nur eine Ausrede gewesen war und irgendwelche Fluchtpläne hatte decken sollen? Andererseits passte das überhaupt nicht zu Fritz, viel wahrscheinlicher und typischer wäre gewesen, dass er in irgendeinen Schlamassel geraten war. Aber gleich einer, der ihn bis in die Nacht am Heimkommen gehindert hätte? Vielleicht war es ja diesmal so schlimm, dass er sich wirklich nicht mehr nachhause getraut hatte?

      Unter