Dies Bild verfolgte ihn bis in die überwachen Träume des Halbschlafs, in den er schließlich fiel, und er hatte es vor Augen, es schnürte ihm den Leib zusammen und die Kehle zu, während am nächsten Morgen in der Schule - mit dem Lehrer in der Klasse, untereinander auf dem Pausenhof, oder getuschelt mit dem Pultnachbarn während des Unterrichts - aufgeregt über Fritz’ Ausbleiben debattiert wurde.
Zuerst dominierten noch Rudolphs überzeugt vorgetragene hoffnungsvolle Erklärungsversionen - es sei doch schließlich kein Wunder, er an Fritzens Stelle, mit diesem Vater, wäre sowieso schon längst ausgerissen, das lasse man sich doch nicht ewig bieten; und wenn dies nicht, so sei er bestimmt bei irgendetwas erwischt und über Nacht eingesperrt worden - sie wüssten doch alle, was für ein Unglücksrabe er sei. Wahrscheinlich habe man ausgerechnet ihn beim auch noch missglückten Straßenbahnspiel beobachtet und sich dann, weil der Rest der Bande schon weggegangen war, als die Polizei kam, an ihn gehalten... So wenig plausibel das auch klang, man wollte doch gerne glauben, dass es so oder ähnlich gewesen war...
Dann, am späteren Vormittag, das Rascheln an der Tür, das zaghafte Klopfen, das zögerliche Öffnen auf Herrn Mäuthis’ „Ja bitte!“, das Raunen durch die Schülerreihen „Da ist ja Ralph! - Das ist ja sein Bruder!“; die in festgefrorener Ungläubigkeit aufgerissenen Augen des Jungen. Die eigentliche Nachricht, die Johannes gar nicht mehr richtig hört, so klar ist es mit einem Mal, und so laut das Pfeifen und Rauschen in seinen Ohren, alles andere übertönend und die Welt zum Verstummen bringend... Die Stille in der Klasse, das Schweigen von fünfzig Kindern, die den Atem anhalten... Herr Mäuthis, der sich auf seinen Stuhl sinken lässt und den Kopf in die Hand stützt, das Gesicht in ihr birgt...
Und nun die Zeit der Eiseskälte, des schreckensstarren Frierens inmitten des Festes der Wärme und des Lichtes, mit dem die langen, hellen Tage die beginnende Hoch-Zeit des Sommers feierten, die Zeit der verstörten, der ratlosen Blicke in schnell abgewandte Augen. Er ging umher wie jemand in Trance, kroch förmlich in sich zusammen, sobald er angeredet wurde; immerzu stand ihm das unauslöschliche Bild vor Augen, kalter Schweiß brach ihm aus und ihn fröstelte. Seine Mutter sah seine Qual und fand den Mut nicht, ihn darauf anzusprechen.
Ein paar Tage später hatte er eine seiner Lernsitzungen mit Herrn Mäuthis. Verängstigt, in sich gekehrt saß er da und versuchte vergebens, seine Aufmerksamkeit auf den Text im Buch und die gestellte Aufgabe zu richten. Dann gab er auf und warf sich - „es geht nicht!“ - resigniert im Stuhl zurück.
Herr Mäuthis hatte dem Kampf zugesehen, unschlüssig, wie er ihm helfen sollte, nun sagte er: „Es ist wegen Fritz, oder?“
Stummes Nicken.
„Du bist sehr traurig, furchtbar erschrocken auch, nicht wahr?“
Nicken mit noch tiefer gesenktem Kopf.
„Nun sag doch was, Junge, sprich es aus!“
Er zog sich noch enger in sich zusammen, als wolle er so wenig Raum wie irgend möglich in der Welt einnehmen.
„Johannes! Rede mit mir, lass dir doch helfen. Du tust dir ja nur unnötig weh!“
Heftigeres Atmen, ein Schlucken schien anzuzeigen, dass er darum rang, endlich sein Schweigen zu brechen. Herr Mäuthis drängte ihn jetzt nicht weiter, er sah ihn nur an und wartete.
Da hob der Junge den Kopf halb an und formte Worte, fast ohne einen Laut hervorzubringen:
„Es ist meine Schuld!“
Totenstille herrschte im Raum.
„Was sagst du da? Hab ich das richtig verstanden? Woran bist du schuld?“
Die Antwort kam wieder nur flüsternd: „Dass Fritz ... dass er ... tot ist!“
Dem Lehrer graute es.
„Um Gottes willen! Was redest du dir denn da ein?! Wie kommst du denn bloß darauf, du warst doch gar nicht dabei, als es passiert ist?“
„Trotzdem. Ich wollte, es wär nicht so!“ Er schauderte.
„Aber... Das musst du mir erklären, bitte!“
„Ich hab doch gelacht.“
„Nun versteh ich gar nichts mehr. Fritz hatte doch einen Unfall, was soll denn das mit dir zu tun haben?“
Es bedurfte noch einiger Rück- und Nachfragen, bis Herr Mäuthis ein Bild von den Abläufen an jenem Abend und den Zusammenhängen hatte, wie Johannes sie sich deutete.
„Aber, soviel ich weiß, ist doch gar nicht sicher, wie es geschehen ist. Er kann doch ebenso gut beim Überqueren der Straße nicht aufgepasst haben und erfasst worden sein.“
Johannes schüttelte den Kopf. „Leute haben ihn ja gesehen. Er ist einmal kurz gefahren und gleich wieder abgesprungen. Und beim zweiten Mal ...“ Seine Augen rissen voll Entsetzen auf, er schlug die Hände vors Gesicht.
„Ich kann’s mir einfach gar nicht vorstellen von Fritz. Im Turnen ist er doch immer so ängstlich.“
„Ja, eben. Rudolph hat ja auch gesagt, es muss eine Verwechslung sein, das war niemals unser Fritz, der hat sich doch gar nicht getraut, als wir gespielt haben. Aber wenn die Leute ihn doch gesehen haben... - sie haben’s der Polizei gesagt, und die hat es seinem Vater erzählt. Er hat üben wollen, ohne dass wir dabei sind, ich weiß es ganz sicher. Und wenn wir nicht gelacht hätten...“
„Da siehst du, du sagst ja selbst, ihr habt gelacht - alle haben gelacht, nicht nur du!“
„Aber er hat doch geglaubt, ich bin sein Freund, ich steh zu ihm und nehm ihn in Schutz!“
In diesem Moment wäre Herr Mäuthis am liebsten an jedem anderen Ort der Welt gewesen, nur nicht hier, nur nicht dieser Situation, dieser Verantwortung ausgesetzt, hätte um das Vorübergehen dieses Kelches gebetet, der ihm, bei aller pädagogischen Passion, viel zu schwer für seine noch junge Unerfahrenheit schien. Was sollte er diesem Jungen nur sagen? - Zu behaupten, dass seine Vermutungen ihn nicht überzeugten, dass er sie für völlig unwahrscheinlich hielt, wäre schlicht eine Lüge gewesen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich wirklich vorstellen, dass es sich so abgespielt hatte: Fritz, in seiner Verzweiflung, dass nun auch noch der Freund ihn auslachte, ihm vermeintlich in den Rücken fiel, von dem er sich Protektion und Solidarität gegen die vorherrschende Geringschätzung erhoffte, hatte für einmal eine Auflehnung, ein Aufbäumen empfunden und sich vorgenommen, es allen zu zeigen, heimlich das zu üben, was er auf Anhieb und unter den kritischen Blicken der Kameraden nicht hinbekam - und nur deshalb hatte es zu dem Unfall kommen können.
Aber - einmal abgesehen davon, dass dies mit Sicherheit nur einer von vielen Faktoren gewesen war, die alle zusammen den fatalen Ausgang verursacht hatten, und es schon von daher monströs, völlig überspannt war, dass dieses Kind sich die Schuld ganz allein aufbürdete - er konnte ihn doch unmöglich diesem schon fast kranken Zustand überlassen, ihn darin womöglich noch bestärken!
Hier war ein Dilemma! Ganz deutlich empfand er, dass Johannes’ zutiefst wahre, eigentliche Unschuld gerade in diesem unverstellten Schuldempfinden, in dieser starken, echten, unbefragt angenommenen Zerknirschung, diesen untröstlich fließenden Tränen lag; jeder Versuch, ihm zu helfen - der aber andererseits unbedingt notwendig war, damit er aus der selbstzerstörerischen Reue heraus zurück ins Leben finden konnte -, jedes Ausreden, Relativieren, Kleinreden würde im selben Moment, wo es die Wunde heilen hülfe, dieses Kostbare zerstören, ein und derselbe Akt nähme ihm die Schuld und die Unschuld zugleich. Er konnte sich nur mit dem Gedanken trösten, dass kein Mensch durchs Leben komme, ohne früher oder später, in größerem oder kleinerem Umfang, offenen Auges oder aus Unachtsamkeit, schuldig zu werden, und dass ohne die irgendwann zu erwerbende Fähigkeit, sich damit zu arrangieren, kein Weiterleben möglich wäre, und machte sich seufzend an die unvermeidliche Operation.
„Aber Junge!“, sagte er, „Du verrennst dich da in einen schrecklichen Irrtum! Du kannst doch nicht wirklich