Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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kleingemacht haben? Und hat nicht der Vater, der ihn zu so einem kleinmütigen Angsthasen geprügelt hat, die Mutter, der große Bruder, die ihn nicht besser in Schutz genommen haben, sind nicht die Passanten, die ihn gesehen, aber nicht von seinem Treiben abgehalten haben, mindestens ebenso schuld? Schau, selbst wenn es stimmen sollte und er wirklich aus Trotz und Auftrumpfen hat üben wollen - es hätte doch deswegen nicht gleich etwas passieren müssen? Sein Jackenschoß oder was es war hätte doch nicht hängenbleiben müssen, der Trambahnfahrer hätte vielleicht besser aufpassen, schneller bremsen können, und wieso gibt es an den Bahnen überhaupt eine Vorrichtung, die solch gefährliche Spiele möglich macht? Und wenn man es zu Ende denkt...“ - Herr Mäuthis, dem dieser Aspekt gerade erst beim Sprechen in den Sinn gekommen war, musste schlucken - „Hätte ich euch nicht zu diesem Fragespiel in die Stadt geschickt, dann wäre es überhaupt erst gar nicht so weit gekommen!“

      Während sein Lehrer immer weitere Argumente aufzählte, immer mehr Schultern suchte, auf die die Last der Verantwortung für die Tragödie verteilt werden konnte, hatte das unkontrollierbare Schluchzen und Zittern, in das Johannes geraten war, allmählich nachgelassen, er hatte langsam aufgeblickt und sein Gegenüber, zwar skeptisch, zweifelnd, aber auch eine Spur erleichtert angesehen. Und als der ihn schließlich fragte, ob diese Gedanken ihm denn nicht einleuchteten und helfen könnten, ob er das nicht wenigstens versuchen wolle, nickte er, mit Tränen in den Augen zwar, aber offensichtlich dankbar, wenn auch im Moment vielleicht mehr für die Anteilnahme, die Mühe, die sich Herr Mäuthis gab, ihn zu trösten, als aus Überzeugung.

      „Komm, jetzt wollen wir versuchen, doch noch etwas zu arbeiten, das wird vielleicht auch etwas guttun.“

      Am Freitagnachmittag - vormittags hatte es die Zeugnisse gegeben, und beim Austeilen hatte Herr Mäuthis einmal innegehalten und mit erbleichendem Gesicht eines der Hefte still zur Seite gelegt - am frühen Nachmittag waren auf die eindringliche Bitte ihres Lehrers hin fast alle Kinder der Klasse und dazu noch einige Nachbarskinder aus der Straße auf dem Stadtteilfriedhof um ein neues Grab herum versammelt, in das soeben unter rasch absolviertem Zeremoniell der Sarg aus unlackierten, einen harzigen Duft nach frischem, lebendigem Holz verbreitenden Kiefernbrettern versenkt worden war.

      Viel Aufhebens machten Pfarrer und Küster nicht, zu alltäglich und unbedeutend war für sie der Anlass; sicher wartete in der Kirche, aus der sie gerade gekommen waren, schon die nächste Trauergemeinde aus diesem bevölkerungsreichen Bezirk, wo unablässig gezeugt und geheiratet, geboren und getauft, gestorben und begraben wurde. Nachdem der Geistliche das Totengebet gesprochen und die erforderlichen rituellen Gesten ausgeführt hatte, wollte er knapp grüßend die Versammlung auflösen und gehen; da trat Herr Mäuthis auf ihn zu und sprach kurz leise mit ihm. Er nickte, zuckte die Schultern und stellte sich mit ergebener Haltung, die Hände übereinandergelegt vor sich hängen lassend, den Kopf leicht geneigt, zur Seite.

      Der junge Lehrer blickte einmal kurz in die Runde, schaute die vorne am Grab stehenden Angehörigen des Jungen an, räusperte sich und senkte dann wieder leicht den Kopf, während er zu sprechen begann.

      „Der Herr Pfarrer war so freundlich, mir zu erlauben, dass ich noch ein paar Worte sagen darf. Das ist mir ein Bedürfnis, aus zwei Gründen: Zum einen möchte ich im Namen der ganzen Schulklasse der Familie Schabach unser aufrichtiges Beileid aussprechen und unser mitfühlendes Entsetzen über das schlimme Unglück, das ihnen das Kind, den Bruder aus ihrer Mitte gerissen hat.

      Zum anderen aber möchte ich mit ein paar wenigen Worten ein kleines, kurzes, aber bewusstes Innehalten schaffen, möchte ihm vielleicht einen Grabstein aus Worten in unsere Erinnerung setzen; und möchte damit zu verhindern suchen, dass er fast so unbemerkt und nebenher von uns geht, wie er durch sein kurzes Leben ging. Denn Fritz war einer, der unter dem halben Hundert Kindern, aus dem unsere Klasse besteht, eher durch sein Nicht-Auffallen auffiel, einer, den man vielleicht besser durch das charakterisieren kann, was er nicht war: Er war nicht stark, nicht mutig, nicht frech oder vorlaut, nicht schlagfertig und wusste sich nicht zu wehren, und war insofern denkbar schlecht gerüstet für diese unsere Welt, hatte ihrer Härte, ihren Grausamkeiten, ihren Herabwürdigungen nichts entgegenzusetzen. Was er aber war: ein Dulder, ein Harmloser, einer, der für sich nichts forderte, der niemandem etwas zuleide tat und tun wollte. Dennoch: auch wenn man seine Anwesenheit deshalb leicht übersehen mochte, so hatte er doch seinen Platz in unserer Gemeinschaft und lässt diesen Platz nun leer zurück - er lässt eine Lücke, und er fehlt.

      Kann sein, dass er zum Schluss, der immer Ängstliche, für einmal Mut beweisen wollte - wir werden das nie mit Sicherheit erfahren können -, und es ist ihm schlecht bekommen. Wollen wir hoffen, dass er es dort, wo er jetzt ist - wenn stimmt, was man uns von klein auf darüber erzählt hat -, dass er es dort besser, vor allem leichter hat, als er es hier je hatte und gehabt hätte.

      Mir ist auf jeden Fall, als könnte es uns allen nicht schaden, wenn wir uns im Laufe unseres Lebens hin und wieder einmal an Fritz erinnerten, uns ihn, den Schwachen, den Gutmütigen, den Duldsamen und Bescheidenen ins Gedächtnis riefen.“

      Die Schüler hörten ihrem Lehrer bei aller Gerührtheit fast ein wenig stolz zu. Frieda heulte und schluchzte dabei hemmungslos; Agnes und Elsa standen eng nebeneinander und sahen jede auf eine Blume herab, die sie verlegen in den Händen drehten: sie hatten gedacht, zu einer Beerdigung gehörten doch Blumen, und hatten auf dem Trümmergrundstück jede eine von Nomis Rosen, eine weiße und eine rote, geholt, die sie später mit ins Grab werfen wollten; Rudolph trat von einem Bein auf das andere und blickte mit zusammengezogenen Brauen zu Boden; Johannes stand etwas abseits für sich und nahm sich stark zusammen, denn Herrn Mäuthis’ Versuche, ihm das auszureden, hatten das quälende Gefühl, eine besondere Rolle bei dem Unglück gespielt zu haben, nicht beseitigen, nur den unerträglichen Schmerz etwas mildern können.

      Später, nach der Rückkehr vom Friedhof, blieben die Kinder noch alle beisammen, keiner brachte es fertig, schon nachhause zu gehen. Eher schweigsam und wortkarg zunächst standen sie am Ende der Straße im Schatten der Mauer. Dann fingen einzelne an, sich gegenseitig an Erlebnisse mit Fritz zu erinnern, und einer fragte in die Runde: „Wisst ihr noch, wie der Fritz an der Mauer hochgeklettert ist?“ - „Ja, klar, und was er uns für einen Schrecken eingejagt hat, als er mit dem ganzen Gestrüpp da runtergefallen ist!“ - „Aber ohne das hätten wir auch diese Tür da nicht entdeckt.“ - „Ja, und dass sie dann doch nicht aufgehen wollte, dafür kann er ja nichts.“ - „Und wer weiß, irgendwann bringen wir’s ja vielleicht doch noch fertig.“ -

      „Ob er jetzt wohl da auf der anderen Seite ist bei seiner toten kleinen Schwester? Das hat er sich doch so vorgestellt, wisst ihr noch, dass dort das Paradies sein müsste“, erinnerte Elsa nachdenklich.

      Johannes stand immer noch bedrückt in der Nähe und sagte nichts. Da trat mit einem Mal Rudolph neben ihn, zupfte ihn am Ärmel und sagte: „Komm, Hannes, nimm’s nicht so schwer! - Alles gut und schön, was der Mäuthis da über Fritz gesagt hat. Aber er war doch auch wirklich ein ausgemachter Tollpatsch und Pechvogel, der hat das Unglück ja förmlich angezogen. Ich glaube fest, dem wäre früher oder später sowieso was passiert!“ Und er sagte das in einem ungewohnt zurückgenommenen, gar nicht zynischen Ton, sondern wirklich, als wolle er den anderen trösten, und vielleicht auch sich selbst von einer Gewissenslast freisprechen.

      Johannes schaute überrascht auf. Tatsächlich stand dem anderen ein ganz untypischer, angelegentlich besorgter Ausdruck im Gesicht. „Kann schon sein“, erwiderte er, „es ist nur...“ Er konnte nicht weitersprechen und schaute zur Seite, zur Mauer und an ihr hinauf, bis sein Blick an den paar Schönwetterwolken hängen blieb, die darüber hinsegelten.

      „Ja, ich weiß“, gab Rudolph leise zurück, „Trotzdem...“

      Nochmals zog er ihn am Arm, und da gesellte Johannes sich mit ihm zusammen zu den anderen Kindern, bis wenig später der Kreis - nach Spielen und lärmendem Zeitvertreib war ihnen heute wirklich nicht zumute - sich auflöste und einer nach dem anderen nachhause ging.

      Und so begannen die großen Ferien.

TEIL II - Die Reise

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