Nun stand sie also vor ihrem Kurs, in ihrer Hose, die das Bein festzurrte und mit ihrem Shirt, das an den Brüsten festklebte. »Wir werden uns in diesem Schuljahr mit drei wichtigen Werken beschäftigen. Als Erstes müsst ihr euch das Drama ›Die Räuber‹ von Friedrich Schiller besorgen. Wir werden nämlich die Epoche des Sturm und Drang behandeln und dieses Werk besprechen.«
Aus der hintersten Reihe vernahm Rebecca ein tiefes Stöhnen. Noch konnte sie nicht unterscheiden, von welchem der beiden Jungen es herrührte. Sie vermutete, dass es Cedric war, da er beide Augenbrauen in die Höhe zog, als er sich die ISBN-Nummer, die Rebecca an die Tafel angeschrieben hatte, in seine Aufzeichnungen übernahm.
»Was ist los, Jungs?«, fragte sie, nachdem das Seufzen wie ein lautloser Tornado den Raum erschüttert hatte.
»Alles gut, Frau Peters«, fühlte sich Cedric angesprochen und grinste schurkisch in sich hinein.
»Ich weiß, dass euch die alte Literatur nicht anhebt«, konnte Rebecca seinen stillen Einwand nachvollziehen. »Aber vielleicht findet ihr ein wenig Gefallen daran. Das ist das erste Werk von Friedrich Schiller. Er hat es in einer Zeit geschrieben, in der er sehr hitzköpfig war. So wie vielleicht manch einer von euch. Diese Stimmung spürt man in seinem Drama. Es geht um zwei verfeindete Brüder, die sich um eine Frau und um die väterliche Nachfolge streiten«, erklärte Rebecca. »Ist ziemlich spannend. Karl, der ältere der beiden, schließt sich einer Räuberbande an, während sein Bruder Franz versucht, den Vater und Karls Geliebte, Amalia, auf seine Seite zu ziehen.«
Rebecca hielt kurz in den Erläuterungen inne. »Bevor wir mit dem Buch einsteigen, werden wir uns ein paar Gedichte ansehen. Nach der Kursfahrt geht es dann sofort mit der Lektüre los. Ihr solltet also bis dahin das Drama gelesen haben.«
Cedric verkniff sich eine weitere Bemerkung, obwohl Rebecca spürte, dass der Protest in ihm schwelte.
Kurz vor dem Ende der Doppelstunde. Rebecca unterdrückte die in der Luft liegende Aufbruchsstimmung, indem sie zu verstehen gab: »Wir werden ab morgen mit den persönlichen Gesprächen beginnen. Obwohl wir nur ein Jahr zusammen sein werden, möchte ich euch trotzdem bestmöglich kennenlernen. Vor allem will ich wissen, welche Stärken und Schwächen ihr habt. Außerdem müssen wir darüber reden, was ihr nach dem Abi mit euch anfangen wollt.«
Sie blätterte in einem Stapel Papier.
»Ich habe schon mal geschaut, wann ihr Freistunden habt und in welcher Stunde ich frei habe, um mit euch zu sprechen. Manchmal müssen wir uns in einer Pause treffen, weil unsere Stundenpläne nicht kompatibel sind. Aber das kriegen wir in den nächsten anderthalb Wochen hin.«
Rebecca wühlte in ihrem Lehrerkalender nach Zetteln, die sie an die Schüler ausgeben wollte. »Ihr erhaltet eine Einladung von mir«, sagte sie und wedelte mit den Papierstücken in der Luft herum. »Darauf findet ihr euren Termin mit mir und ihr erfahrt, worüber wir sprechen wollen. Lisa, bist du bitte so lieb und verteilst die Einladungen an die Mitschüler?« Rebecca übergab ihrer Schülerin den Stapel, den sie eifrig austeilte. Dann klingelte es zur Pause. »Seid bitte pünktlich da. Ich möchte mit euch einiges bereden«, schrie Rebecca über die bereits entstandene Lautstärke hinweg.
Sie beobachtete, wie die Schüler einpackten. Lisa schwirrte wie eine gute Fee durch den Raum und teilte emsig die Zettel aus. Als sie bei Cedric ankam, sah Rebecca, dass er das Schriftstück ergriff und ohne es anzusehen in sein Hausaufgabenheft steckte. Er presste die Lippen fest zusammen. Seine Reaktion war ein Stich ins Herz. Rebecca hatte gehofft, sein Interesse erhalten zu haben. Als habe sie naiverweise geglaubt, dass er sich freut, mit ihr reden zu dürfen. Privat.
Dann übergab Lisa den Zettel an Linus. Er lächelte, ohne seine Zähne zu zeigen, nahm den Zettel an sich und las, was darauf geschrieben stand. Dann schaute er Rebecca an und setzte ein Schmunzeln auf. Nicht schelmisch, sondern freundlich.
Cedric war bereit zum Aufbruch und murmelte Linus etwas zu. Der nickte lediglich, schenkte Rebecca einen letzten Blick und packte dann ebenfalls seine Sachen zusammen. Seine Augen glitten immer wieder Richtung Lehrertisch. Cedric hielt seinen Blick starr auf seinen Rucksack gerichtet und verließ ohne Verabschiedung den Raum. Rebecca hatte auf einen letzten Augenkontakt gehofft.
Der Mittwoch war der kürzeste Tag für Rebecca. Sie konnte bereits nach den ersten drei Stunden die Schule verlassen. Die Pause hatte sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Lehrerzimmer verbracht. Nun schulterte sie ihre Tasche und verließ schlendernd das Schulhaus. Beim Heraustreten glaubte sie, die Sonne wolle ihre braunen Haare versengen. So stark brannte sie unerbittlich auf die Erde herab.
Da waren Oberstufenschüler, die neben der Turnhalle – trotz der Hitze – über die Tartanbahn liefen. Ein älterer Sportlehrer feuerte die Jungs zu mehr Leistung an: »Macht mal ’n bisschen schneller!«, schrie er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Rebecca blieb stehen und sah den Jugendlichen dabei zu, wie sie auf der kurzen Distanz die Meter überbrückten. Sie erspähte Linus in kurzen schwarzen Sportshorts und einem legeren blauen Shirt. Wenn er dort war, konnte sexy Cedric nicht weit sein.
Rebecca trat einen Schritt näher an die Laufstrecke heran, ohne aufdringlich wirken zu wollen.
Linus hatte sie längst bemerkt und strahlte sie an. Er war versucht, die Hand zu heben, unterließ es aber. Seine Augen klebten an ihr, bevor sie sich auf die Laufbahn richteten, auf der er gleich sein Können unter Beweis stellen musste.
Ein Teenager nach dem anderen begab sich in Startposition. Ein lauter Knall, durch den Sportlehrer erzeugt, schwappte über das Gelände und schon rannten drei Schüler auf unterschiedlichen Bahnen gegeneinander. Ihre Bein- und Armmuskulatur war deutlich angespannt. Sie reckten die Hälse nach vorn und legten ein mörderisches Tempo vor, als wollten sie vor einer Gefahr fliehen. Nach hundert Metern am Ziel angekommen, bummelten sie seelenruhig zu ihrem Ausgangspunkt zurück, an dem bereits Mitschüler auf den Startschuss warteten. Ihnen machte die Hitze offenbar gar nichts aus.
Was hatte Rebecca für ein Glück, an einem Sportgymnasium zu sein, an dem lauter gut gebaute, trainierte junge Kerle herumliefen, die sie mit ihren Blicken ausziehen konnte.
Da war Cedric. Er redete mit einem anderen Jugendlichen und schlenderte seelenruhig auf der Bahn zurück, ohne den Kopf zu heben. Er trug, ähnlich wie Linus, kurze Shorts. Seine Waden wirkten wie die eines Radrennfahrers. Kräftig, maskulin. Sein