Morgen geht bei mir die Schule wieder los. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie furchtbar aufgeregt ich bin!! Es ist ja schließlich das erste Mal seit drei Jahren, dass ich wieder vor eine Klasse oder einen Kurs trete. Am ersten Schultag steht für mich zwar noch kein Unterricht an, aber ich lerne trotzdem die Schüler bei der Begrüßung in der Aula kennen. Also nicht alle, das wäre gelogen. Die Schule ist recht groß, sodass die kleinen Klassen um 8:30 Uhr begrüßt werden, die »Großen« um 9 Uhr. Da ich ausschließlich in Klasse 9, 10, 11 und 12 Unterricht gebe, werde ich nur in der zweiten Veranstaltung »eingeführt«. Du weißt, was ich meine. ;-)
Irgendwie habe ich Angst davor, nach so langer Zeit wieder zu unterrichten. Es ist ja nun schon einige Jahre her, dass ich vor Kindern und Jugendlichen gestanden habe. Gut, ich habe Gott sei Dank größere Klassen zu betreuen, sodass ich mir keine Sorgen darüber machen muss, ob der Unterricht ruhig ablaufen wird. Aber trotzdem muss ich mich erst einmal auf ganz viele neue Gesichter einstellen. Seien es die Kollegen, die Schüler oder auch das Personal an der Schule. Alles ist neu. Wird sicherlich eine anstrengende Woche für mich! Von daher melde ich mich heute, falls wir uns nicht gleich wieder hören …
Wie geht es Tom und eurer Tochter? Habt ihr mal was von Paul gehört?
Mir selbst geht es den Umständen entsprechend gut. Ich gehe ganz viel laufen. Joggen ist zu einem meiner wichtigsten Hobbys geworden. Neben dem Lesen natürlich. Ein gutes Buch habe ich immer irgendwo rumliegen. Bin auch viel in der Bibliothek, um mir was auszuleihen.
Ich hatte dir ja schon geschrieben, dass ich an einem Sportgymnasium anfange. Daher werden die Schüler sicher noch mal mehr darauf schauen, wie ich selbst aussehe. Obwohl ich zugeben muss, dass die meisten Kollegen nicht unbedingt den Eindruck erwecken, recht fit zu sein. ;-) Aber zumindest möchte ich von Anfang an im wahrsten Sinne des Wortes eine gute Figur abgeben.
Apropos Kollegen: Ich habe einen sehr netten Mann an meinem ersten Tag an der Schule kennengelernt. Er heißt Robert. Wir waren gemeinsam beim Chinesen essen. Er wird mein Kollege in der zwölften Klasse – ist nämlich auch Tutor, genau wie ich. Robert hat mir einiges über meine Schüler erzählt, die ich in meinem Kurs habe. Da sind zehn Mädchen und zwei Jungs. Ich bin schon gespannt, wie sie auf mich reagieren. Vor allem will ich sie erst einmal genauer unter die Lupe nehmen und Einzelgespräche mit ihnen führen. Robert hat mir den Tipp gegeben, dass ich so am schnellsten mehr über sie erfahre.
Meine Achter, die ich an der alten Schule hatte, waren ja eher schwierig. Ich hoffe, dass die Schüler, die ich jetzt im Kurs habe, angenehmer zu handhaben sind. :-) Sie sind ja einige Jahre älter als die Kinder, die ich damals als Klassenlehrerin vor mir hatte. Von daher bin ich sehr zuversichtlich. Robert hat aber schon angekündigt, dass die beiden Jungs etwas komplizierter sein sollen. Oder anders: Er meinte, dass ich ein Auge auf sie haben sollte. So oder so lasse ich mich überraschen.
Nun gut, damit bist du erst einmal auf dem neuesten Stand. Ich würde mich freuen, wenn du was von dir hören lässt.
Liebe Grüße
Rebecca
Dass sie ihre Freundin nicht mehr zu Gesicht bekam, schmerzte Rebecca. Der Umzug vor drei Jahren sollte einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen und daher war es ihr wichtig, möglichst weit weg von Paul zu ziehen. Seit ihrem Umzug hatte Rebecca Lydia nicht mehr gesehen.
Ob sie jemals Fuß in der neuen Heimat fassen würde? Die Stadt war zu groß, zu anonym, zu fremd, als dass es Rebecca bisher gelungen war, Bekanntschaften zu schließen. Nachbarn waren für sie da, wenn sie Hilfe brauchte. Aber gleichaltrige Freunde zu finden, blieb ihr versagt. Dazu fehlte ihr die Kontaktfreude. Einfach raus gehen und neue Personen ansprechen? Dazu fehlte ihr der Mut.
Ihre Gelegenheitsjobs, mit denen sie sich die letzten drei Jahre über Wasser gehalten hatte, stellten sich ebenfalls nicht als Kontaktbörsen heraus. In den ersten Monaten nach ihrem Umzug jobbte Rebecca als Kellnerin. Die weiblichen Bedienungen lästerten über Rebecca, weil sie aus einem gut bezahlten Beruf kam. Nun stand sie auf gleicher Stufe mit ihnen und musste aufs Geld schauen. Immer glaubte Rebecca tratschende Worte zu vernehmen, überall fühlte sie sich unbehaglich und beobachtet. Daher war eine Kündigung dort unvermeidlich, nachdem sie eine Honoraranstellung bei einer Zeitung erhalten hatte. Als Deutschlehrerin fiel ihr das Schreiben nicht sonderlich schwer, sodass sie sich fragte, ob sie nicht als Journalistin ihr Auskommen sichern konnte. Die Zeitung war aber unter keinen Umständen bereit gewesen, sie als Redakteurin anzustellen. Es handelte sich um einen kleinen Betrieb. Eine Chefredakteurin, ein Lokaljournalist, zwei Honorarkräfte, ein Fotograf. Entsprechend dürftig fiel ihre Bezahlung aus. Nicht viel mehr als das, was sie in der Kneipe verdient hatte. Es reichte gerade so, um die Miete zu begleichen.
Neben der schlechten Entlohnung hatte Rebecca Mühe, überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen. Lokale Themen auszugraben, glich selbst nach gut zwei Jahren Anstellung einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ihr haftete immerfort der Makel der Zugezogenen an, sodass sie nie wirklich bei der kleinen Lokalredaktion heimisch wurde. Das zeigten ihr die Kollegen nicht, aber ihre Artikel wurden gründlicher vor Abdruck überprüft und oft hatte die pedantische Chefredakteurin etwas daran auszusetzen, änderte zum Beispiel noch kurz vor Druck Rebeccas Sätze ab, ohne mit ihr über die Anpassung zu sprechen.
Als im Frühjahr diesen Jahres das Sportgymnasium eine Anzeige einreichte, überlegte Rebecca nicht lange und bewarb sich auf die ausgeschriebene Stelle der Stützlehrerin, noch bevor die Annonce in den Druck ging. Schwangerschaftsvertretung zu übernehmen, erweckte den Anschein, kein sonderlich anstrengendes Unterfangen zu sein. Chance auf Übernahme bestand nicht.
Bei ihrem Bewerbungsgespräch hatte ihr neuer Chef zu verstehen gegeben, dass keine neuen Lehrer an der Schule gebraucht würden. »In Mathe, Physik und Informatik suchen wir Kollegen«, hatte er betont. Der bedeutungsschwangere Satz wirkte noch lange in Rebecca nach. Sie war als Deutsch- und Kunstlehrerin unwichtig. Niemand brauchte Lehrer, die Kinder zu Kreativität anleiteten. Wichtig waren Lehrer, die die Schüler in die hochdotierten, bestbezahlten Jobs der Wirtschaft