Bullshit, Rebecca! Niemand sollte erfahren, was sie wirklich hierher trieb. Die Affäre zu ihrem ehemaligen Schüler Elouan musste unter allen Umständen vertuscht werden. Niemals sollte ihre Vergangenheit auf den Tisch kommen!
»Wenn wir uns besser kennen, können wir gern darüber sprechen, wie schwierig es ist, irgendwo neu anzufangen. Aber heute nicht. Heute geht es darum, dass wir uns ein wenig ›beschnuppern‹.« Rebecca zwang sich zu einem Lächeln durch, das ihr nach wie vor schwerfiel.
»Ich weiß, dass wir nur ein Schuljahr zusammen haben werden. Das reicht vielleicht gerade aus, um als Kurs zusammenzuwachsen. Ich möchte in den kommenden Tagen mit euch Einzelgespräche führen. Ich will herausfinden, was ihr für Menschen seid, was ihr euch vorgenommen habt für dieses Schuljahr und ich will wissen, was ihr mit dem Abi machen wollt. Ich denke, dass wir uns vor allem während der Kursfahrt annähern werden.«
Klang das halbwegs sicher? Rebecca pochte mit den Fingerkuppen auf den Lehrertisch. »Okay, dann stellt euch mal vor, damit ich euch mit Namen ansprechen kann«, bat sie, setzte sich hin und erstellte einen Sitzplan. »Gut, beginnen wir bei dir hier vorn.«
Zur Frühstückspause verließ Rebecca den Raum und stolperte Richtung Lehrerzimmer, wo sie hoffte, auf Robert zu treffen. Schon beim Aufschließen des Raums prasselte ein lautstarker Schwall auf sie ein. Kolleginnen rannten wie aufgescheuchte Suppenhühner durch das Zimmer. Einige saßen an den Tischen zusammen und aßen ihre mitgebrachten Frühstücksbrote, während sich einer lauter als der andere über den ersten Schultag austauschte. Auch Robert war mit einer Frau im Gespräch versunken. Als er Rebecca entdeckte, hob er die Hand und winkte sie herbei. Als Rebecca am Tisch ankam, streckte ihr die ältere Kollegin mit den rötlich-grauen Haaren die Hand entgegen und stellte sich als Sabrina Winkler vor, die dritte Tutorin.
»Und wie war deine erste Stunde im Kurs?«, fragte sie Rebecca herzlich. Die neue Kollegin besaß eine einnehmende Erscheinung. Ihre Statur war sehr kräftig. In Kombination mit den kurzen Haaren wirkte Sabrina leicht bubenhaft. Trotz ihres resoluten Auftretens erweckte sie den Eindruck, eine Kameradin fürs Leben zu sein.
»Ich war tierisch aufgeregt«, sagte Rebecca und versenkte ihre Handflächen ins Gesicht.
»Ach Quatsch!«, rief Sabrina aus und patschte ihr auf die Schulter. Es war ein kerniger Handschlag. Fast wie bei einem Mann. Auch Sabrinas Stimme war sehr dunkel gefärbt.
»Du hast ganz liebe Mädels drin. Die unterstützen dich bei allem, was du mit denen vorhast.«
»Ich habe Rebecca«, schaltete sich Robert ins Gespräch ein, »schon gesagt, dass sie einzig Cedric und Linus im Auge behalten muss.« Aus Sabrinas Mund entrang ein kehliges Lachen. Sicherlich rauchte sie schon seit Jahren, so metallisch wie ihre Stimmlage klang.
»Ja, die beiden sind eine Nummer für sich«, griente Sabrina und entblößte ihre gelblichen Zähne.
»Sind mir nicht weiter aufgefallen«, sagte Rebecca schnell. Tatsächlich hatten sich die Jungs während der Einführungsstunde benommen. Keiner hat irgendeinen komischen Kommentar verlauten lassen. Eine Anspielung auf die Disconacht wäre auch mehr als unpassend gewesen.
»Sie kennen dich noch nicht«, meinte Robert und nahm einen Bissen von seiner Wurststulle. Rebecca bekam nichts herunter, obwohl sie ihre Schnitte eingepackt mit ins Lehrerzimmer genommen hatte. Zu groß war der innere Brocken, den sie seit gut anderthalb Stunden in sich trug.
»So, ich glaube, wir müssen wieder«, sagte Sabrina und erhob sich mit ihrem ganzen Gewicht vom Stuhl. Mit einer Hand auf der Tischkante abgestützt, drückte sie ihren wuchtigen Körper nach oben. Dann zwängte sie sich an den anderen Kollegen vorbei, die ihr keine Beachtung schenkten. Rebecca beobachtete, wie ihr massiger Leib beim Gehen von einer in die andere Richtung schwenkte. Mit diesem Aussehen am Sportgymnasium zu bestehen, war bestimmt nicht einfach. Aber die Kollegin strahlte die nötige Stärke aus, die es brauchte, um als Lehrerpersönlichkeit geachtet zu werden.
»Welche Fächer unterrichtet sie?«, fragte Rebecca, als Sabrina aus ihrem Blickfeld verschwand.
»Geografie«, erwiderte er.
»Nur ein Fach? Dann hat sie sicherlich nicht viele Stunden.«
»Man sieht es ihr nicht an, aber bis vor zehn Jahren hat Sabrina sogar Sport unterrichtet.« Als könnte er seine Worte selbst nicht glauben, lachte Robert nach Beendigung des Satzes laut auf.
»Sabrina arbeitet schon über fünfzehn Jahre hier. Ich bin seit acht Jahren dabei. Ich habe sie nie als Sportlehrerin gesehen. Sie hat es mir mal irgendwann gesagt, als wir auf Klassenfahrt waren.«
Schon komisch, wie sich Menschen verändern konnten.
»Sie unterrichtet nahezu alle Klassen in ihrem Fach. Ich glaube über fünfundzwanzig.«
Aufbruch im Lehrerzimmer. Robert erhob sich und wünschte ihr gutes Gelingen. Rebecca war dankbar, zwei Kollegen zu haben, die sie unterstützten. Mit diesem Background konnte sie ruhigen Gewissens ins neue Schuljahr starten.
Kapitel 5
Den ersten Arbeitstag überstanden zu haben, war kein Garant dafür, dass die anderen genauso aalglatt abliefen. Am Mittwoch, als Rebecca ihren eigenen Kurs in Deutsch zu unterrichten hatte, konnte sie sich einen ersten Eindruck davon verschaffen, wer ernsthaft an Literatur interessiert war und wer das Fach gewählt hatte, weil der Mathe-Leistungskurs zu schwer war. Cedric und Linus schienen eindeutig der letzteren Kategorie anzugehören.
Deutsch war für die erste und zweite Unterrichtsstunde mit neunzig Minuten angesetzt. Rebecca hatte extra am Tag davor den Ablauf penibel geplant, um einen positiven Eindruck von sich als Lehrerpersönlichkeit zu vermitteln. Wieder stand sie vor dem Spiegel und wusste nicht, mit welchen Waffen sie heute zuschlagen sollte. Montags, mittwochs und freitags waren die Tage, an denen sie ihren Leistungskurs sah. Daneben übernahm sie Stunden in den Klassen 9 bis 11 – Jahrgänge, die Rebecca ganz recht waren. So hatte sie nachmittags ausreichend Zeit, sich dem Sport zu widmen oder Unterricht