»Erkennst du Eltern aus meinem Kurs?«, fragte Rebecca ihre neue Kollegin, während sich ihr gehemmter Blick durch den Saal bewegte und versuchte, Ähnlichkeiten zwischen Mutter und Tochter beziehungsweise zwischen Vater und Sohn zu entdecken.
»Da sind schon welche da. Julias Eltern sehe ich«, sagte Sabrina, drehte ihren Kopf aber wieder weg, um sich erneut der Zettelwirtschaft auf dem Tischchen zuzuwenden.
»Und sonst?«, fragte Rebecca zögerlich.
Sichtlich genervt strichen Sabrinas skeptische Augen durch die Reihen der Anwesenden. »Ja, da sind noch welche da, glaube ich. Robert hatte mehrheitlich deine Leute in seiner Klasse. Ich kann dir da wenig helfen.«
Robert redete abseits der Bühne stark gestikulierend mit einem Elternteil. Er lachte. Geheucheltes Getue, schoss es Rebecca durch den Kopf. Obwohl: Bei Robert war sie sich da nicht so sicher. Er hatte irgendwie immer gute Laune.
Rebecca dachte zurück an die Zeit an ihrer alten Schule: Sie hasste Elternabende, weil sie sich einen ganzen Abend lang ein Dauergrinsen ins Gesicht meißeln musste. Positive Worte zu finden hatte, wo es Kritik geben sollte. Bloß nicht anecken, um nicht beim Schulleiter zu sitzen und sich rechtfertigen zu müssen.
So hing Rebecca ihren Gedanken nach. Verloren stand sie auf der Bühne und betrachtete die namenlose Masse, die sich in die Sitzreihen zwängte. Sie musste zusehen, ihre Aufregung, die Vibrationen und Elektrostöße durch ihren Körper schickte, unter Kontrolle zu bekommen.
Es war heiß in der Aula.
Wie bereits in den Einführungsveranstaltungen fühlte Rebecca einen unsäglichen Druck auf ihrem Körper. Da sie nur leicht bekleidet war – sie hatte sich einen sommerlich kurzen Rock übergeworfen – konnte sie wenigstens das Schwitzen halbwegs regulieren. Bei ihrem Bauch war sie sich da nicht so sicher. Es drückte und gurgelte laut hörbar. Hätte sie doch bloß zu Hause Abendbrot gegessen, anstatt mit leerem Magen in die Schule zu gehen.
Und nun stand sie auch noch auf der Bühne! Sie konnte sich nicht einfach in die erste Reihe setzen und sich verkriechen. Erst recht durfte sie nicht abhauen. Obwohl sie nichts zu sagen brauchte, sondern von ihren beiden Kollegen vorgestellt wurde, drohte ihr Herz aus der Brust zu springen, als sie die immer voller werdende Aula registrierte und die interessierten Blicke der Eltern wahrnahm, die sie erdolchten.
»Guten Abend, liebe Eltern«, unterbrach die resolute Stimme von Sabrina die Unruhe im Saal. Rebecca knetete ihre durchtränkten Hände vor dem Schoß und mühte sich zaghafte Freundlichkeit ab. »Ich freue mich, dass Sie so zahlreich zu unserem Elternabend erschienen sind.« Eine kurze Pause. Rebeccas Augen wanderten über die Unbekannten. »Wir werden Sie an diesem Abend über die Fahrt nach Italien aufklären. Sie erhalten das detaillierte Programm vorgestellt. Außerdem bekommen Sie die Belehrungen mitgeteilt, die auch die Schüler von ihren Tutoren erhalten haben oder noch erhalten werden.«
Wieder ließ Sabrina einige Sekunden vergehen, bevor sie weitersprach: »Zunächst aber zu der Frau, die hier neben mir steht.« Sabrina streckte ihre wulstige Hand nach Rebecca aus. »Frau Peters wird in diesem Schuljahr die Schwangerschaftsvertretung für Frau Fritsche übernehmen. Als Tutorin wird sie uns selbstverständlich nach Italien begleiten.« Sabrina hielt kurz das Mikrofon zu und wandte sich an Rebecca: »Willst du noch selbst ein paar Worte zu dir sagen?«, fragte sie.
Sabrina hatte noch nicht einmal den Satz beendet, da schüttelte Rebecca schon mit schreckgeweiteten Augen den Kopf. Ihr war gleichgültig, wie das auf die anwesenden Eltern wirken musste. Solange sie nicht gezwungen wurde zu sprechen.
»Frau Peters steht Ihnen für ein persönliches Kennenlernen zur Verfügung. Am Ende dieser Veranstaltung können Sie gern mit ihr in Kontakt treten, wenn Sie Fragen zum Kurs haben oder wenn Sie unsere neue Kollegin kennenlernen möchten.« Rebecca hoffte, dass nicht allzu viele davon Gebrauch machen würden. Innerlich dankte sie ihrer neuen Kollegin dafür, dass sie nicht selbst vor allen Anwesenden einen Monolog führen musste. Sabrina zog die Mundwinkel in die Höhe. Rebecca erkannte die Gequältheit, die in ihrer Mimik lag. Offenbar war sie nicht die Einzige, die Freundlichkeit vortäuschte.
Mit jedem weiteren Satz, den Sabrina durch das Mikrofon sandte, entspannten sich ihre Nerven und ihr Herz schlug in einem gesünderen Rhythmus. Ihre Kollegin schien schon öfter derartige Elternabende abgehalten zu haben, da sie mit einer Leichtigkeit sprach, die Rebecca ehrfürchtig werden ließ. Sogar Robert brauchte kaum Ergänzungen vorzunehmen, als Sabrina den detaillierten Ablauf mithilfe einer Power Point Präsentation erklärte und an die Einhaltung der Regeln appellierte. Erst, als gegen Ende der Veranstaltung Fragen gestellt werden durften, mischte sich Robert in die Erläuterungen ein. Aber auch er wirkte kein bisschen unsicher.
Insgesamt dauerte es eine geschlagene Stunde, bis alle Unklarheiten beseitigt waren und die Eltern zufrieden die Aula verließen. Nur wenige kamen noch einmal nach vorn, um Rebecca persönlich die Hand zu schütteln und mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie lernte die Eltern von Julia kennen, und auch die Mutter von Emely war erschienen. Ihre Schülerin machte immer so einen eingeschüchterten Eindruck. Ihre Mutter hingegen strahlte Lebensmut und Elan aus. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, als sie wissen wollte, wie es ihrer Tochter ging. Da Rebecca die Klassenkonstellationen davor nicht kannte, konnte sie der Mutter wenig Rückmeldungen geben. Sie zog trotz allem beruhigt ab und Rebecca war froh, dass niemand sonst ihre wertvolle Abendruhe störte.
Am Dienstag erwartete sie Linus. Rebecca saß auf einer Bank im Schulhof. Über ihr spendete das dichte Geäst einer Kastanie ein wenig Schutz vor der Sonne, die nach wie vor unerbittlich ihre Kraft zur Erde schickte. Rebecca spürte das heiße Holz unter ihrem Oberschenkel, da sie einen karierten Faltenrock trug, der ihr noch nicht einmal bis zum Knie reichte.
Sie wartete. Entweder kam Linus nicht pünktlich aus dem Unterricht oder er ließ sie bewusst warten. Letzteres glaubte Rebecca allerdings nicht, da sie ihren Schüler für zuverlässig und achtsam hielt. Doch nun das: Fünf Minuten waren verstrichen, ohne dass Linus erschien. Kostbare Zeit, die sie