Ich schließe die Tür und atme tief durch. Meine Küche sieht nach wie vor chaotisch aus: Scherben und Algen – nur ohne Waldi. Ich trample mit meinen uneleganten Latschen mittendurch und bin begeistert, dass sie mit ihren festen Sohlen wenigstens praktisch sind. Ich schiebe eine Tiefkühlpizza in den Ofen und schalte das Radio an: Nachrichten. Tote, vergewaltigte, in Klimakatastrophen umgekommene, politisch verfolgte Menschen mit Behinderung und ohne Obdach, die ihre eigenen Säuglinge ermorden. Wer nur, wer, frage ich in die Welt hinaus, – will das bitte wissen? Wer verliert seinen Lover, seinen Goldfisch, seinen Stolz bei einer Beisetzung im Vorgarten und kann all das auch noch ertragen? Ich stelle das Radio aus und gehe unter die Dusche. Kein Satin, kein Birkenstock. Nur das Geräusch von Wasser und Tränen – als Wasser getarnt. Ich wasche mir Schweiß und Gefühle herunter. Es wird schon gehen, irgendwann. Ich wünschte nur, es würde etwas Gutes passieren. Etwas fürs Ego, fürs Herz, für meinen verlorenen Stolz. Für die Kinder, die ich nicht habe, weil er sie schon hatte. Für den Job, den ich zum Glück behalten habe, weil er sowieso nie genügend verdient hätte. Für meine Eltern, die seit fast 30 Jahren verheiratet sind und nie streiten. Hier bin ich, Paula Groß, 29 Jahre alt und Single. Eigentlich bin ich schon längst wieder auf dem Markt, denn die Beziehung, die ich hatte, war nur eine billige Sexaffäre. Also, Universum, hab Mitleid und schicke mir ein Zeichen, aber bitte nicht auf spirituellem, sondern auf irdischem Wege.
Oh, „Can’t touch this, nänä nä nä”. Klingelt mein Handy? Ich sprinte unbekleidet und nass, so schnell man nass und unbekleidet eben sprinten kann, aus der Dusche in Richtung Handy. Wo ist es denn? Unelegant glitsche ich aus, fange mich aber schnell wieder. Auf dem Balkon! Es ist tatsächlich noch auf dem Tisch auf meinem verdammten Balkon. Ich muss an all den Scherben und Algen vorbei. Aber es hört glücklicherweise nicht auf zu klingeln. Jemand meint es ernst. Ich hoffe, dass es nicht meine Mutter ist. Autsch. Für diesen Gedanken trete ich direkt in eine Scherbe. „Der Liebe Gott bestraft die kleinen Sünden immer sofort”, höre ich die Stimme meiner Großmutter in meinem Kopf, während ich die Scherbe schnell rausziehe und meinen Weg fortsetze. Ich will dieses Zeichen des Universums entgegennehmen, verdammt! Mit dem Arm fische ich mein Handy seitlich vom Balkontisch und reiße dabei meine Kaffeetasse runter. Was soll’s, ich brauche sowieso eine Putzfrau oder eine neue Wohnung. „Ja?”, schnaufe ich in den Hörer.
Schluchzen, Schniefen, Schnaufen, auch auf der anderen Seite der Leitung. Saïd? Er weint ja wie eine Frau um mich, denke ich kurz und bin für eine Sekunde glücklich.
„Pauuuuuulaaaa-haa-aaah.” Schniefen. Okay, es ist tatsächlich eine Frau in der Leitung.
„Carmen? Carmen, was ist los?”
Carmen ist meine beste Freundin. Meine dickste, dicke Freundin. Und sie weint hemmungslos.
„Carmen?”
„Pauuula.”
„Was ist denn los?” Ich bringe mich schnell aus der unabsichtlichen Sichtweite anderer Mieter, indem ich den Vorhang zuziehe.
„Es ist … Mama”, schnieft Carmen.
„Was ist mit ihr?”, frage ich.
„Sie ist tot, Paula.”
Meine Gedanken überschlagen sich. Ich realisiere überhaupt nicht, was ich da höre. Ich kenne Carmens Mutter seit Jahren. Sie gehört quasi zur Familie.
„Bleib wo du bist, Carmen!”, schreie ich in den Hörer. „Ich komme zu dir!“ Moment.
„… Wo bist du?”
„In ihrer Wohnung.”
Also auf in die Plattensiedlung. Auf nach Steilshoop. Schlimmer geht’s immer war ohnehin das einzige Motto, an das ich je geglaubt habe. Ein Zeichen des Universums, wie konnte ich nur so naiv sein? Da war sicher etwas im Tee.
„Ich nehme ein Taxi, bin in etwa einer halben Stunde bei dir."
Die Kartoffeln der letzten Nacht
In der Wohnung von Carmens Mutter, die sich im 12. Stock eines Steilshooper Plattenbaus befindet, herrscht ein regelrechter Menschenauflauf. Während ich das denke, denke ich auch an meine Pizza im Backofen, die ich gerade noch rechtzeitig abgeschaltet habe. Mein Magen knurrt, aber ich schenke ihm keine Beachtung, sondern versuche Carmen in der Menge zu entdecken. Da ist sie. Mit Pandaaugen von der verschmierten Wimperntusche rennt sie mir entgegen, ihre sonst so gestylte Löwenmähne hängt schlapp herunter. Sie schluchzt „Paulaaaa" und drückt sich an mich. Ihr Freund Rami kommt ebenfalls auf mich zu, so blass, wie man als Halb-Inder nur sein kann. „Was ist denn nur passiert?", frage ich. Die anwesenden Polizisten debattieren laut mit einer Nachbarin, die in absolute Hysterie ausgebrochen ist, und irgendein trainierter Schnösel macht Fotos. Was genau fotografisch festgehalten wird, ist mir nicht klar. Denn eine Leiche sehe ich nicht. Genau das verwirrt mich. All der Lärm und keine Erklärung, kein Anhaltspunkt.
Carmen versucht sich zu fassen. „Sie ... sie hat sich vom Balkon gestürzt:"
„Wie bitte?!" - "Ja. Mama hat sich ... sie hat", Carmen muss eine Pause machen. „Sie hat sich das Leben genommen". Sie löst sich aus unserer Umarmung, um sich die Augen zu reiben. Rami streichelt ihr liebevoll über die Schulter. Er sieht total schockiert aus. Genau wie ich. „Aber Carmen, deine Mutter war der optimistischste Mensch der Welt! Und wir haben doch gerade am ... am Dienstag, genau, am Dienstag zusammen zu Abend gegessen! Und dann hat sie uns die Karten gelegt, wie sie es bei Astro TV gelernt hat. Und sie hat nur Gutes kommen sehen. Wie ... wie kann denn das sein?!" Ich verstehe es nicht. Carmen beginnt erneut zu weinen. Rami setzt sich für eine Weile mit ihr aufs Sofa. Der offene Wohnbereich lässt auf nichts Besonderes schließen. Es ist alles sauber und ordentlich. Auf dem Tisch stehen ein paar Kartoffelchips, die Schüssel ist fast halb voll. Eine Illustrierte liegt aufgeschlagen daneben. Klatschpresse. Irgendwas über den königlichen Spross von William und Kate. Das Leben der anderen hat Maria schon immer interessiert. Aber genau das ist es ja: vieles hat sie so sehr interessiert, dass sie sich niemals umgebracht hätte. Ich sehe keinen Abschiedsbrief. Keine Weinflasche, keine Pillen, nichts, was irgendwie auch nur in der leichtesten Form das Thema Selbstmord anskizzieren würde. Ich betrachte erneut den königlichen Spross. Gut, kleine Kinder sind, wie ich finde, nur selten ein ästhetischer Anblick. Bitte verzeih, William, ich reagiere da eher auf Hundewelpen. Aber auf keinen Fall ist der royale Nachwuchs so eine Gesichtsentgleisung, dass man sich aufgrund dieses Artikels vom Balkon stürzen müsste.
Ich bahne mir den Weg durch all die Menschen, von denen ich keinen einzigen kenne, bis hin zum Balkon. Ein dicker Mann und ich sind die einzigen hier. Gedankenverloren zieht er an seinem Zigarillo, die andere Hand tief vergraben in der Tasche seines Trenchcoats. Eine Halbglatze schmückt seinen dicklichen Kopf, die spärlichen Haarsträhnen wehen im Wind und er wirkt selbst beim Ausatmen konzentriert.
„Sie erfüllen aber auch jegliches Klischee eines Ermittlers!", höre ich mich sagen, ganz unbewusst. Er zieht eine Augenbraue hoch und lacht mit tiefer Stimme. Dann streckt er mir die Hand, die zuvor in der Tasche war, entgegen
„Clausen. Und Sie sind?"
„Paula Groß. Eine Freundin der Familie."
„Eine Freundin von Maria?"
„Ja. Und von Carmen. Und von Carmens Freund Rami."
„Aus mehr Leuten besteht die Familie nicht?"
„Nein." Ich schüttle den Kopf.
„Wo ist Carmens Vater?"
„Durchgebrannt, mit einer Jüngeren. Aber schon vor 20 Jahren. Warten Sie, es gibt noch einen Onkel. Jürgen, Marias älterer Bruder. Der lebt in St. Pauli. Er besitzt dort eine Kneipe, das Nachtlicht."
„Löblich, gut informiert."