„Wieso hat er ihn nicht gleich gegessen, meinen kannibalistischen Fisch? Das hätte wenigstens noch ein bisschen Stil gehabt”, denke ich. Und da kommt mir auch schon spontan eine wunderbare Idee: die Katzenfrau!
Komplett durcheinander, sowohl optisch als auch mental, laufe ich mit dem toten Waldi in den Händen ins Treppenhaus. Im Negligee und mit den hässlichen Latschen an den Füßen. Und während ich den obersten Stock erklimme, fällt mir auf, dass ich noch nie so weit oben war. Dass ich generell noch nie bei der Katzenfrau war. Ich kenne sie seit Jahren, manchmal klingelt sie an meiner Tür, mit einer Katze auf der Schulter und einem penetranten Geruch, der genauso an ihr haftet, und lässt sich von mir einen Kaffee servieren. Dann erzählt sie von übernatürlichen Dingen, die irgendwie spirituell und seltsam klingen, von verrückten Vorahnungen und vor allem von Katzen. Es ist ja nicht so, dass ich keine Katzen mag aber die Dimensionen ihrer Erzählungen sind einfach so unerträglich, dass ich die Treppen zu ihrer Wohnung tatsächlich noch nie zuvor hinaufgestiegen bin. Etwas läuft mir die Wangen hinunter und ich ärgere mich so lange über meine beschissene Kondition, bis ich merke, dass es Tränen sind. Ich weiß nicht so richtig, was mit mir los ist. Ich merke nur, dass ich mit der rechten Hand gegen die Tür der Katzenfrau hämmere, als hätte es nie Türklingeln gegeben.
Barfuß und komplett zerzaust öffnet sie mir die Tür. Um ihre nackten Füße scharwenzeln drei Katzen, im Hintergrund läuft keltische Musik und es riecht nach einer Mischung aus Räucherstäbchen, indischem Essen und Katzenpisse.
„Paula!“, sagt sie und blickt dabei auf den toten Goldfisch in meiner Hand. „Ich habe dich schon erwartet. Komm rein.“ Ich betrete den bunten, mit Batiktüchern tapezierten Flur und bin doppelt irritiert: Nie hätte ich bei dieser Frau eine Art Wohnstil vermutet – und warum erwartet sie mich? Das frage ich sie auch direkt, als wir uns auf runden, orientalischen Sitzkissen in der Küche niederlassen. Die Katzenfrau streicht der schwarzen Katze, die sonst auf ihrer Schulter sitzt, liebevoll über den Rücken und sagt: „Karl hat es mir ins Ohr geflüstert.“ Karl – so heißt ihr schwarzer Kater. Ich habe das Gefühl, dass er mich mit einem bestätigenden Blick ansieht, während sie das sagt, aber ich bin mir nicht sicher. Ich frage, ob sie Alkohol im Haus hat – Waldi immer noch in meiner Hand. Sie steht tatsächlich auf und kommt mit einer Flasche Ouzo und einem Glas zurück. „Trink, so viel du willst“, sagt sie. „Du brauchst es in so einer schweren Zeit.“ Ich trinke zwei Gläser auf ex. Dann sammle ich mich kurz und sage „Ulla, ich wollte dir eigentlich nur den Fisch bringen, für deine Katzen. Ich gehe auch gleich wieder.“
Mittlerweile schnuppert Karl sehr interessiert an Waldi und ich befürchte, er hat gerade eine mächtige kosmische Eingebung: Hunger. Ulla schüttelt den Kopf. „Liebes“, sagt sie, „Liebes, meine Katzen werden deinen Fisch nicht anrühren. So kann seine Seele nicht wandern, verstehst du. Er braucht eine Beisetzung.“
Der Alkohol ist mittlerweile in meinem Hirn angekommen und ich sage, was ich denke: „Ulla – er ist ein Goldfisch.“ Sie versteht den sarkastischen Unterton in meiner Stimme nicht und entgegnet nur: „Oh ja, und was für einer! Er wird dir sicher fehlen. Genau wie der Mann.“
„Der Mann?!“ Ich spucke einen Schluck Ouzo aus. „Waren wir … waren wir so laut?“
„Nein“, lächelt sie. „Ich wusste, dass es nicht halten würde. Er war nicht aufrichtig.“
Gut, denke ich, wir waren schon laut. „Aber er wird kommen, der richtige Mann“, spricht sie weiter. Sie schwebt kurz in ihrem grünen Gewand zur Küchenablage und macht sich einen Tee. „Weißt du, ich hatte neulich eine Vision.“
Ich kippe noch ein paar Schlucke Ouzo in mich hinein und frage mich, warum mein Leben so verkorkst ist. Wie konnte es nur soweit kommen? Ich hatte doch immer gute Noten in der Schule. Ich habe mir Mühe gegeben. Auch mit dem Studium. Mit den Männern. Und nun sitze ich bei einer Verrückten, weil ich will, dass ihre Katzen meinen Goldfisch fressen. Weil mein Goldfisch sterben musste. Weil mein Freund mich betrogen hat und zwar mit seiner eigenen Ehefrau. Anscheinend war er nicht mal mein Freund. Es ist ja auch immer alles Definitionssache heutzutage. Und ich hasse Definitionssachen. Definitionen von Gefühlen sind doch total unpassend. Man versucht etwas in ein Wort zu übersetzen, wofür es eigentlich gar kein Wort gibt. Und dann ist man in einer Beziehung, verlobt, verheiratet, geschieden und unglücklich. Oder man ist total glücklich und denkt, es wäre nicht nötig den Gefühlen einen Namen zu geben – und findet heraus, dass man an eine eigentlich total stupide Sexaffäre sein Herz verloren hat.
Ich spüre, wie Ulla mich in ihre esoterischen Arme nimmt und sagt: „Lass es einfach raus.“ Und ich schluchze wie ein Teenager nach der Trennung einer Boygroup. Nun wird nichts mehr sein wie es mal war.
Nach einer Weile habe ich mich in etwa wieder unter Kontrolle und nippe an einer Tasse von Ullas Tee. Ich bin mir nicht sicher, was genau ich überhaupt trinke, aber ziemlich sicher, dass es kein gewöhnlicher Tee ist. Ich bin allerdings zu geschafft um nachzufragen. Waldi liegt mittlerweile auf einer silbernen Platte auf der Küchenablage, als würde er zum Dinner serviert werden, und um ihn herum brennen mindestens zehn Kerzen. Ulla hat klassische Musik dazu aufgelegt, ich tippe auf einen russischen Komponisten. Aber auch das ist mir eigentlich relativ egal. Sie hat ihre Hände gefaltet und murmelt etwas vor sich hin. Es erinnert ein wenig an Beten, wirkt aber eher so, als beschwöre sie sämtliche Geister herauf. Die Katzen sitzen dabei wie in Trance um sie herum. „So,“ sagt sie abrupt und dreht sich zu mir um, „es ist soweit, die Beisetzung kann jetzt beginnen.“
Ich trage Waldi auf dem Silbertablett, Ulla die schwarze Katze auf der Schulter und in jeder Hand eine Kerze. In dieser merkwürdigen Konstellation (toter Fisch auf Platte, dicke verlassene Frau im Negligee, durchgeknallte Hellseherin, übernatürliche Katze mit Appetit auf Fisch) schreiten wir erst durchs Treppenhaus und dann in den Vorgarten. Überraschenderweise treffen wir dabei absolut niemanden. Als könne Ulla meine Gedanken hören, sagt sie zu mir: „Ich habe uns einen günstigen Zeitpunkt ausgesucht.“ Dann kniet sie sich hin, platziert eine Kerze links, eine rechts und beginnt genau in der Mitte ein Loch zu graben. Mit bloßen Händen. Ich stehe einfach nur da. Ungläubig. Verwirrt. Und irgendwie auch in tiefer Trauer. Ich blicke auf Waldi hinunter und muss weinen. Wir hatten schon schöne Momente. Er war ein guter Fisch. Nicht zu anderen Fischen, aber zu mir. Was mache ich nur mit all meinem auf Vorrat gekauften Fischfutter? Und mit dem ganzen Couscous? Und all diesen merkwürdigen arabischen Gewürzen? Warum nur habe ich so unglaublich viel Geld in Unterwäsche investiert, die ich nun vermutlich nie wieder tragen werde, weil sie mir selbst nicht mal gefällt? Wie geblendet ich war. Wie … verstrahlt. Ich knie mich nieder und berühre Waldis toten Fischkörper mit der Fingerspitze. Seine leeren Augen glubschen mich an, als wolle er mir sagen: „Selber schuld, ich hab’s kommen sehen. All die Jahre, die ich allein und glücklich in deinem Aquarium geschwommen bin, hast du alle möglichen Männer ausprobiert: groß, klein, dick, dünn, schlau, dumm, reich, arm, deutsch, marokkanisch. Und immer wieder waren wir am Ende zu zweit. Nur mit dem Unterschied, dass ich zufrieden war. Und du, du warst unglücklich. Jedes verdammte Mal. Und nun, nun bin ich tot. Wegen deines bescheuerten Optimismus. Nun bist du ganz allein. Allein, allein, allein.“
„Paula?“. Zum Glück befreit Ulla mich von einer Sekunde auf die andere aus meinem inneren Dialog mit einem toten Goldfisch. „Du kannst ihn nun niederlassen.“ Ich knie mich hin und versenke Waldi in dem von Ulla gegrabenen Loch im Vorgarten. Als die Beisetzung erfolgt und das Grab mit Erde versiegelt ist, sagt Ulla noch ein paar Worte, die meinen Fisch sehr ehren und gießt parallel mit Kerzenwachs ein mir unbekanntes Symbol auf die über ihm festgeklopfte Erde.
„Er