Und Riath glaubte ihm, denn obwohl sie gleichalt waren, hatte Xaith immer auf ihn aufgepasst.
Sie schliefen wieder ein, während der Sturm seinen Höhepunkt erreichte, doch er konnte ihnen keine Furcht mehr einjagen. Jetzt nicht mehr.
Fortan rannte Riath nicht mehr zuerst in den Turm, wenn er sich nachts fürchtete, er rannte immer wieder zu seinem Bruder, dessen Tür immer offenstand. Bis sie beide zu alt waren, um sich noch vor Schattenmonstern und Donner zu fürchten…
Er schlug die Augen auf, als im Nebenraum eine Tür knallte, ansonsten blieb er unbewegt. Noch immer herrschte eine hörbare Aufregung in der Villa und auch in der ganzen Stadt, Wachen trabten umher, Ratgeber rannten von Zimmer zu Zimmer, Drachenjäger wurden gerufen.
Die Bestie war zwar fort, aber auch der König von Nohva.
Allmählich machte sich der Schlafmangel bemerkbar, in seinem Kopf fühlte sich alles seltsam dumpf an und er spürte ein stetig stärker werdendes Hämmern unter der Schädeldecke, seine Augenlider waren schwer und gereizt, selbst das Atmen war ein Kraftakt.
Riath bewegte sich ein wenig auf seinem Stuhl hin und her, um seinen steifen Rücken zu lockern, doch das brachte nichts. Er war hundemüde, wie man zu sagen pflegte, doch an Schlaf war nicht zu denken. Nicht nachdem … nachdem er zugesehen hatte, wie sein Vater im Maul des Drachen verschwand, und nichts dagegen unternommen hatte.
Er war wie gelähmt gewesen. Er und Xaith. Sie hatten nichts getan, einfach nur mit offenen Mündern zugesehen, unfähig, sich zu bewegen. Sie schämten sich, Riath wusste, dass Xaith sich genauso schlecht und schwach fühlte wie er, er sah es in dessen aschgrauen Gesicht.
Es war schrecklich gewesen, diese lähmende Fassungslosigkeit, die Angststarre und das Gefühl, des Unglaubens, das alles wie in einem Alptraum wirken ließ.
Riath stand noch unter Schock, er konnte und wollte nicht glauben, was geschehen war. Und als er sich in dem Raum umsah, in dem sie beisammensaßen, erblickte er die gleiche Starre in den Gesichtern seiner Geschwister.
»Es geht ihm gut!« Wexmell versuchte, ihnen seine Furcht nicht zu zeigen, aber sie konnten sie spüren. Sie kannten Wexmell immerhin ihr ganzes Leben, und er war nie aufgebracht im Zimmer auf und ab gegangen und hatte mit Tränen gekämpft. Aber für sie wollte er stark sein. »Ich wüsste es, wenn es nicht so wäre!«
Riath beobachtete ihn, wie er in seinem Gemach ruhelos auf und ab ging und sich die Brust rieb, als krampfte sein Herz.
Sie hatten sich alle auf das Zimmer ihrer Väter zurückgezogen, als der Drache auf und davon war. Wexmell hatte ihm nacheilen wollen, aber seine Pflicht ihnen gegenüber hatte ihn hiergehalten. So hatte Kaiser Eagle Späher und Drachenjäger ausgesendet, die dem Drachen gefolgt waren.
Sie warteten nun auf eine Nachricht von diesen.
Riath hoffte, es wäre nicht die Nachricht, dass ihr Vater nicht wieder kommen würde…
Der Gedanke schmerzte so sehr in seiner Brust, dass er sie sich ebenfalls rieb und sich auf seinem gepolsterten Stuhl, der neben der Tür stand, nach vorne lehnte.
May und Sarsar saßen steif auf der Bettkante, Sarsar war ein Grauen ins Gesicht geschrieben, wie Riath es bei seinem Bruder noch nie gesehen hatte. Sarsar war immer … eine Spur gleichgültig. Nicht aber an jenem schicksalshaften Morgen, als die Dämmerung am Horizont einen Lichtstrahl zeigte, und sie annahmen, ihr Vater, der König, wäre für immer von ihnen gegangen.
Sie hatten es nicht kommen sehen, sich nie vorstellen können, einer ihrer Väter könnte von jetzt auf gleich von dieser Welt scheiden.
Der einzige, der wie immer recht gefasst wirkte, war Vaaks. Natürlich Vaaks. Der ruhige Riese, dachte Riath bei sich und mahlte mit den Kiefern. Mit durchbohrenden Augen starrte er hinüber zum Fenster, wo Xaith noch immer wie eine Statue des Grauens vor sich hinstarrte, genau wie an jenem Tag, als er seine Mutter getötet hatte, nur dass ihm jetzt kein Blut im Gesicht klebte. Er saß auf der Fensterbank und seine Schultern hingen tief. Vaaks setzte sich neben ihn – dicht neben ihn, zu dicht – nachdem er eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte, und fuhr mit seinen kräftigen Fingern zwischen Xaiths schlankere, beinahe filigrane Finger, um sie festzuhalten, und drückte aufmunternd zu.
Wie selbstverständlich lehnte Xaith sich an Vaaks` starke Schulter und rieb die Wange daran, um eine stille Träne fortzuwischen, genau wie Riath es damals in dieser stürmischen Nacht bei ihm getan hatte.
Er hasste es, die beiden so eng zusammen zu sehen, er hasste es abgrundtief. Und er hasste den Umstand, dass er nicht einfach aufstehen und Xaith in den Arm nehmen konnte, um in dessen Wärme und Geruch zu versinken und die Angst um ihren Vater zu teilen, wie sie früher immer die Angst vor der Dunkelheit geteilt hatten.
Er fühlte sich allein, regelrecht im Stich gelassen.
Riath hasste die Kluft zwischen ihnen so sehr, aber noch mehr hasste er es, wenn jemand anderes Xaith tröstete, wenn er sich tief im Inneren nach Xaiths Trost sehnte.
Aber er konnte niemandem außer sich selbst die Schuld darangeben, dass Xaith ihm ferner war als alle anderen in diesem Raum. Er hasste sich selbst für das, was aus ihm geworden war.
Wexmell ging noch immer nervös im Zimmer auf und ab, jeder Augenblick, in dem sie keine Neuigkeiten erfuhren, zog sich quälend langsam dahin. Die Zeit war wie Sand, der sich durch eine winzige Öffnung drängte und träge hinabrieselte. Jetzt brach der Morgen an, aber die Nacht hatte sich angefühlt wie drei ganze Tage Dunkelheit und Ungewissheit.
»Er kommt zurück«, Wexmell nickte, als redete er es sich selbst ein, »es geht ihm gut, ich weiß, dass es ihm gut geht, ich …«
May stand plötzlich auf und stellte sich ihm in den Weg. »Ganz bestimmt«, sagte sie, obwohl in ihren Augen die gleiche Hoffnungslosigkeit wie in allen anderen stand. Sie rieb beruhigend Wexmells Arm, als dieser sie ansah, als würde er sie nicht erkennen, er blinzelte verwundert.
»Du solltest zu Kaiser Eagle gehen, Vater«, schlug sie vor, »er wird von seinen Spähern doch sicher zuerst über Neuigkeiten unterrichtet.«
Wexmell verzog zweifelnd das Gesicht und sah alle im Raum nacheinander an. »Aber ich kann euch doch jetzt nicht …«
»Geh!«, forderte Vaaks ihn auf und nickte ihm zu. »Wir kommen zurecht.« Dann sah er Xaith an und legte einen Arm um ihn, denn er hatte die Augen geschlossen.
Riath musste ein tiefes Knurren unterdrücken. Zwischen denen beiden war etwas passiert, er konnte es geradezu riechen. Sie waren sich nähergekommen, ihre ganze Körpersprache schrie es heraus. Wie nahe sie sich waren, wie selbstverständlich sie sich berührten und anlehnten. Es war offensichtlich, dass sie sich auf eine Weise nähergekommen waren, die ihm unter gar keinen Umständen gefiel.
Wexmell zögerte noch, doch dann siegte seine eigene Unruhe. »In Ordnung, aber bleibt hier«, er ging bereits zur Tür, »der Orden bewacht den Gang.«
Es war unsinnig, aber sie nickten nur noch. Als ob es der Drache nur darauf abgesehen hätte, zurück zu kommen, um auch noch sie zu verspeisen, und dann auch noch durch die Tür kommen würde…
Aber keiner wollte Wexmell jetzt widersprechen, ihr Vater war schon aufgebracht genug.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, ging May zu Vaters Tisch und schenkte ihnen allen Wein ein. Ohne ein Wort ging sie reihum und verteilte Kelche. Vaaks und Sarsar nahmen einen, aber Riath lehnte ab, und Xaith öffnete nicht einmal die Augen, obwohl er wach zu sein schien, denn seine Atmung ging schnell.
Riath wollte jetzt nicht trinken, der Wein machte ihn gleichgültig und unberechenbar, außerdem fühlte sich sein Magen flau an. Er hatte auf dem Fest schon zu viel getrunken, hatte mit May einen Saufwettbewerb veranstaltet und war von ihr unter den Tisch gesoffen worden. Doch als er die schimmernden Schuppen gesehen hatte, war er schlagartig wieder nüchtern gewesen. Aber nicht die Schuppen des Drachen, sondern jene auf einem schmalen, schwungvollen Rücken...
May stellte sich wieder an den Tisch, hob den Kelch