Etwas stimmte hier nicht. Und zwar gewaltig.
Cohen senkte den Blick und legte eine Hand um Desiderius` Arm, um sich aus dessen Griff zu befreien. »Eine lange, nicht ganz so amüsante Geschichte.«
Desiderius brauchte keine Erklärung, er wusste, was dieses Auge bedeutete, und als es ihm klar wurde, konnte er es auch spüren. Sein göttlicher Sinn verriet ihm alles, was er wissen musste.
Mit steinharter Miene presste er durch die Lippen: »Du bist ein Dämon!«
Cohen sah ihn nicht an, sein Mund war ein schmaler, zusammengepetzter Strich, während er lediglich bejahend nickte.
Desiderius schlug die Faust in den Boden und versuchte, sich aufzurichten. »Wo ist er?« Er hatte nur noch einen Gedanken. »Wo ist der Mistkerl, ich bring ihn um! Ich bring ihn um, das schwöre ich, dieses Mal bring ich ihn um!«
Etwas stieß ihm hart gegen die Brust und katapultierte ihn wieder auf den Rücken. Verwundert blinzelte er, als Cohen ihn entschlossen ansah.
»Das wirst du nicht!«, knurrte sein einstmals Geliebter.
Desiderius schnaubte. »Ich kann mir denken, wem du dieses Dasein verdankst…«
»Ich wäre jetzt nicht mehr hier, wäre ich kein Dämon«, verkündete Cohen sehr ernst und brachte Desiderius damit zum Schweigen. »Ich wäre nirgendwo mehr. Es ist nicht das, was ich mir nach meinem Tod vorgestellt hätte, aber es ist bestimmt nicht so, wie du denkst. Keine Folter machte mich zum Dämon, sondern ein großes Opfer, für das ich sehr dankbar bin. Bilde dir kein vorschnelles Urteil, Desiderius M`Shier, das war schon immer deine größte Schwäche.«
Noch immer argwöhnisch betrachtete er Cohens Gesicht, doch er zügelte sein Temperament, denn er konnte im Moment ohnehin noch nicht so recht begreifen, wie das alles möglich sein konnte.
Cohen war ja nicht erst seit gestern fort, er war sehr, sehr lange tot gewesen, und sie hatten viele Jahre gehabt, um sich damit abzufinden. Doch jetzt, nach all der Zeit, saß er wieder vor ihm und starrte ganz lebendig auf ihn herab. Zwar als Dämon, aber dennoch war er Cohen. Sein Cohen.
Er war nur erleichtert, dass dessen Seele nicht Jahre lang gefoltert worden war, um dann als geschwärztes, dunkles Wesen wiedergeboren zu werden. Er hätte es nicht ertragen, zu wissen, dass Cohen all die Jahre gelitten hatte, während er die Zeit voller Liebe und Frieden genossen hatte.
Ein Räuspern erklang hinter Cohen, der sich sofort über die Schulter sah. Und da war er, der Übeltäter, dem Cohen sein neues Leben verdankte, dachte Desiderius zynisch, während er zwischen den beiden hin und her sah.
»Ich trübe die Wiedersehensfreude nur ungern, aber…«
»Leck mich.«
Bellzazar grinste kühl. »Ich liebe dich auch, Bruder. Aber können wir die Feier dieser Wiedergeburt und euer unverhofftes Wiedersehen auf einen anderen Zeitpunkt verlegen?«, fragte er regelrecht vor Sarkasmus triefend. »Sagen wir, sobald wir dringendere Probleme, wie den drohenden Weltuntergang, besprochen haben, und an einem weniger gefährlichen Ort sind, vorzugsweise in der netten Stadt da unten mit den hohen Mauern und bemannten Türmen, die dein Sprössling so vortrefflich verwüstet hat, ja?« Er deutete mit dem Daumen hinter sich und knirschte mit den Zähnen. »Du solltest dir besser anhören, was wir alle zu erzählen haben, Bruder, denn ob es dir gefällt oder nicht, wir stecken alle bis zum Hals in Scheiße. Und in keiner normalen, braunen Scheiße, sondern in grüner, warmer Neugeborenenkacke.« Er ließ den Arm fallen und sah Cohen ins Gesicht, während er matt anfügte: »Danach könnt ihr zwei euch immer noch euer Leid klagen und euch heulend in die Arme fallen, um euch abzulecken.«
Desiderius stutzte, er hatte seinen Bruder ja schon in allen möglichen Momenten erlebt, aber er war immer aalglatt gewesen, doch nun schlich sich so etwas wie Verbitterung in seine Züge und Worte, die ihm ganz gewiss nicht eigen waren. Argwöhnisch verengte er die Augen und durchbohrte Bellzazar mit Blicken. Ein ganz schlechtes Gefühl überkam ihn. Ganz, ganz schlecht.
Er konnte aber nicht weiter darüber nachdenken, denn als Cohen aufstand und an Bellzazars Seite trat – sie sahen sich ins Gesicht, und Desiderius konnte den Blick seines Bruders nicht recht deuten – da schlug ihm plötzlich der Wind ins Gesicht und mit ihm der Geruch, der ihm zugleich fremd und vertraut vorkam.
Mit einem Ruck saß er aufrecht und durchlebte einen Sturm der Gefühle. Alles andere war vergessen. Da fiel es ihm wieder ein. Dieser Geruch, das war nicht Cohen gewesen, es war ein Geruch, den er viel länger nicht wahrgenommen hatte. Männlich, würzig, herb – Freiheit und unbändige Liebe.
Er blinzelte zu der Gruppe Männer, die sich an einer alten Wachturmruine tummelte. Es waren viele, aber er beachtete nur das eine Paar Augen, das genauso intensiv und gefangen zu ihm herüberblickte, wie er zur Ruine starrte.
Ich weiß, wer du bist, sagte sein Blick. Natürlich wusste er es. Sein Herz wusste es sofort, als er ihn in Menschengestalt erblickte, obwohl er sein Antlitz unter einem Umhang und einer weißen Halbmaske verbarg. Er wusste, wer er war, ohne seinen Namen zu kennen. Sie kannten sich, ohne sich je begegnet zu sein.
Wie in Trance kam Desiderius auf die Beine, war sich überhaupt nicht richtig bewusst, dass er sich bewegte, auf einmal machte sich sein Körper selbstständig und war wie befreit von irdischer Schwere. Auch der andere rührte sich, setzte sich von den anderen ab, und als ob sie sich ein Zeichen gegeben hätten, gingen sie in den Wald, der vertraute Fremde mit den honigfarbenen Augen lief voran, Desiderius starrte auf dessen breiten, seltsam vertrauten Rücken, während sie die Gruppe verließen.
»Ich weiß, wer du bist«, raunte Desiderius, als sie vom lichten Bergwald am Rande der Ruine verschluckt wurden.
Der Fremde drehte sich nicht um, blieb aber ebenfalls zwischen zwei Bäumen stehen, das Sonnenlicht malte helle Punkte und Streifen auf seinen Umhang und Schultern. »Und ich weiß, wer Ihr seid«, erwiderte er mit einer Stimme, die Desiderius eine Gänsehaut eintrug.
Es war Rahffs dunkle, melodische Stimme.
Desiderius schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie … kann das sein? Ich meine, ich weiß, dass es wahr ist und wie … es dazu kam. Aber … wie … wie kann es wahr sein? All die Jahre… dachte ich …«
»Suto wäre mit Eurem Drachenei auf See ertrunken?« Nun drehte der Fremde sich doch um, es lag keinerlei Groll noch Vorwurf in seiner dunklen Stimme. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, ich weiß. Der alte Vogel hat mir alles erzählt. Ich weiß, dass einer meiner Väter nichts von mir wusste … weil sich niemand sicher war, wie dieser damit umgeht.« Geradezu forschend betrachtete er ihn, eine gewisse Vorsicht lag in seinen ungewöhnlichen Augen.
Desiderius war es, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen. Er schwankte etwas und stützte einen Arm gegen einen Baum. »Ich war nie sicher, ob er wirklich ein Ei … und ich war jung und …« Er geriet bei seiner Erklärung ins Stocken, denn er wusste, dass sie fadenscheinig wirken würde, auch wenn sie der Wahrheit entsprach. Manchmal war jedes Wort, das falsche Wort. Er sah auf und den Fremden an, und alles, was er in diesem Moment noch wusste, war: »Du bist ein Teil von mir.«
Der Fremde sah ihn einfach an, ruhig und unbewegt, vollkommen im Reinen mit sich und der Welt.
Desiderius schaute ihn durchdringend an. »Lüfte deine Maske.«
Für einen Moment rührte sich nichts, nicht einmal ein Muskel in ihren Zügen oder der Wind in ihrem Haar. Doch dann atmete der Fremde vernehmbar aus, senkte den Kopf und hob seine Hände. Erst zog er die Kapuze ab, dann löste er die Maske.
Desiderius atmete bebend aus, als er das gewellte, schulterlange Haar erblickte, das kantige Kinn und den dichten Bartschatten. Er schüttelte den Kopf und musste blinzeln. »Du siehst wie dein Vater aus.«
Das war nicht gelogen, er war Rahffs Ebenbild, von Kopf bis Fuß. Desiderius schmerzte das Herz in der Brust so sehr, dass er beinahe in die Knie gegangen wäre. Er holte vernehmbar Luft, doch ihm war, als füllte sie nicht seine Lungen.
Ein