Dann hörte er Gebrüll und das Flackern schwerer Umhänge. Drei in schwarz gewandete Krieger stürmten durch die Reihen der fassungslosen Zuschauer, angeführt von einem schmäleren, kleineren Mann mit goldenen Locken.
Kacey war für einen Moment wie gefangen von dem Krieger, der mit gezogener Waffe furchtlos auf den Drachen – auf Ragon! – zustürmte. Dieser Mann … sah aus wie sein Spiegelbild!
Kacey blinzelte. War dies sein Vater? War dies der Kaiser? Aber er trug nicht das grüngelbe Wappen des Kaiserreichs, er trug einen Drachen, der sich um eine öffnende Lilie schlängelte, auf seinem wehenden Umhang, genau wie die drei Krieger, die ihm folgten.
Ragon warf den Kopf herum, als er die Angreifer bemerkte. Geschickt rollte sich der schlanke Krieger unter Ragons Flügel, wich seinem Schwanz aus und attackierte seine Vorderklaue. Ragon machte einen verwunderten Satz zur Seite und peitschte warnend mit dem Schwanz. Aber die Angreifer setzten ihm nach.
»Nein! Ragon, nicht!« Kacey sprang ebenfalls auf, wollte eine weitere Katastrophe verhindern. Es überraschte ihn, dass ihn niemand aufhielt. Der Prinz, der ihn festgehalten hatte, war wie erstarrt und ließ Kacey einfach davonrennen, genau wie die beiden, die bei ihm standen und in ihrem Unglauben eingefroren schienen.
»Ragon!«, brüllte Kacey dem Drachen entgegen. Doch dieser kauerte sich bereits in Kampfstellung, als seine Angreifer auf ihn zustürmten.
Kacey wollte sich auf seinen geduckten Flügel werfen. Lieber würde er noch einmal Fliegen, als auch nur einen Augenblick länger in dieser Stadt zu bleiben. Er musste hier fort, bevor sie ihn wieder ergriffen und doch noch einsperrten. Wie sollte er ihnen erklären, wer er war und was er wollte? Sie würden ihm jetzt nicht mehr glauben. Und zu allem Überfluss hatte sich Ragon wegen ihm in einen Drachen verwandelt und hatte einfach so einen Mann verschluckt! Einfach so!
Die Angst beflügelte seine Beine, er rannte, als sei die Unterwelt ihm auf den Fersen, dabei war Ragon nicht so weit entfernt gewesen, wie es sich jetzt anfühlte. Der Lauf kam ihm ewig vor, die Entfernung zu dem rettenden Drachen schien endlos zu sein.
Und dann spürte er plötzlich Magie im Nacken, schwer und mächtig knisterte sie in der Luft und ließ ihn beinahe keuchen. So eine starke Energie hatte er noch nie gespürt. Rein instinktiv warf er sich flach auf den Boden und fühlte nur noch den eiskalten Hauch eines Magiegeschosses, das über ihn hinweg flog. Ein Eiskristall so scharf und groß wie ein Drachenzahn flog auf Ragon zu. Er traf seine Schuppen oberhalb des Vorderbeins, doch das beeindruckte ihn nicht.
Drachen waren magieresistent. Das Geschoss vereiste seine Flanke, doch er schüttelte den Frost einfach ab wie lästigen Sand. Dann reckte er den Kopf und zeigte die Zähne, öffnete jedoch nicht das Maul zum Brüllen.
Plötzlich kam Bewegung in die Stadt, die Wachen erwachten aus ihrer ungläubigen Starre und riefen nach Drachenschützen. »Nein!«, brüllte wieder jemand, und dann rannte auch schon der Riese los, der geholfen hatte, Kacey vom Platz zu zerren, um sich mit den anderen Schwertkämpfern auf Ragon zu stürzen. Furchtlos rannte diese wahre Naturgewalt auf Ragon zu und brüllte dabei: »Schießt auf den Flügel! Schießt auf seine Flügel!«
Mehr Eisgeschosse und nun auch Pfeile regneten auf Ragon herab, der den Flügel über den Kopf hob und dann einen mächtigen Satz zur Seite machte, um den verbissenen fünf Kriegern auszuweichen, die seine Unterseite unermüdlich angriffen.
Kacey konnte die Unruhe und Angst in Ragons Augen erkennen, wie ein Tier in der Falle. Er war nicht aggressiv, er hatte nur Kacey beschützen wollen. Ragon wehrte sich nicht einmal richtig, doch das hinderte die Angreifer nicht daran, ihn erlegen zu wollen.
»Verschwinde!«, brüllte Kacey und stemmte sich gleichzeitig hoch. »Ragon! Flieg weg!« Dann rannte er wieder auf ihn zu und winkte, als wollte er ihn verscheuchen. »Flieg weg!«
Seinetwegen sollte Ragon nicht verletzt werden!
Ein unterdrückter Laut entkam der Drachenkehle, als ein Drachenpfeil – ein massiver Pfeil mit einer Silberspitze – ein Loch in seinen Flügel schlug. Das brachte Ragon zum Straucheln. Weitere Pfeile schlugen mit einem dumpfen Laut in seine Flanke und in seinen Hals ein, blieben stecken. Ragon schwankte, als ginge er gleich zu Boden, schüttelte die Pfeile ab und versuchte, sich mit seinen Flügeln zu schützen.
Warum flog er denn nicht weg?
»Nein!« Kacey brannten Tränen in den Augen. Hilflos blieb er stehen und drehte sich mitten auf dem Platz herum. Niemand achtete auf ihn, ein Pfeil verfehlte ihn sogar nur sehr knapp und zerbrach auf dem harten Boden.
»Hört auf!«, brüllte er verzweifelt. »Bitte, hört auf! Er ist nicht böse! Bitte, er ist nicht böse!« Er versuchte, sich schützend vor Ragon aufzubauen, aber niemand hörte auf ihn. Natürlich nicht, er war nebensächlich, gegenüber einem Drachen, der einen der ihren verschluckt hatte. Zumal er vor Ragon vermutlich wirkte wie ein Staubkorn, das sich schützend vor einen Elefanten stellte.
»Ragon!«, schrie plötzlich eine allzu bekannte Stimme über den Platz. Kaceys Kopf flog herum und er hätte vor Erleichterung beinahe geschluchzt. Fen rannte mit wütender Miene über den Platz auf ihn zu. Ragon warf sofort den Kopf zu ihm herum. »Weg hier!«, brüllte Fen und rannte Kacey beinahe um. Er schlang einen Arm um dessen Taille, ohne anzuhalten, und stürmte weiter auf Ragon zu, der seine Angreifer mit einem Schlag seines verletzten Flügels zurückwarf und Fen Deckung vor den Pfeilen gewährte.
Kacey hing wie ein Kleidersack in Fens Arm und wurde durchgerüttelt, als Fen ihn an seine steinharte Seite presste und sich leichtfüßig mit einer Hand an Ragons Schuppen hinauf zu seinem Rücken hangelte. Kacey klammerte sich an ihn und schloss die Augen, wie er es bei ihrem ersten Flug getan hatte. Er spürte das mächtige Beben unter ihnen, als Ragon sich aufbäumte und dann losmarschierte. Mit zwei Sprüngen hob er ab und flog so tief über die Stadt, dass er die Schützen auf den Wällen umwarf. Das wütende und verzweifelte Brüllen der Krieger hallte ihnen hinterher und erschütterte Kacey bis ins Mark. So viel Hass war ihm noch nie entgegengeschlagen.
Was hatte er nur angerichtet? Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, während er sich an Fen schmiegte und insgeheim darum betete, dass er nur einen Alptraum träumte.
Kapitel 2
Er war nicht verliebt. Nein, das konnte nicht sein. Er war in seinem ganzen Leben noch nie verliebt gewesen, und er lebte schon ziemlich lange. Er hielt die Verliebtheit für eine Laune der Natur, die nur sterbliche Wesen befiel, da Sterbliche nicht das Wissen innehatten, das er besaß, weil sie schlicht ihren Trieben und Gefühlen unterlegen waren. Wie Tiere in der Paarungszeit.
Er hatte geliebt, gewiss, sehr lange und sehr tief und wahrhaftig. Aber er war nie verliebt gewesen. Es waren zwei völlig verschiedene Dinge. Verliebtheit war flüchtig, aber überschwänglich, sie machte blind und hochmütig. Liebe war anders, sanfter, ruhiger, ewiglich. Das eine war ein Sturm auf hoher See, das andere ein stilles Gewässer, aber dafür tief und unergründlich.
Nein, er war nicht verliebt. Aber etwas war anders als damals, aufwühlender. Bewegender.
Mit mahlendem Kiefer und verschränkten Armen lehnte Bellzazar am Bettpfosten und starrte auf den Mann in seinem Bett hinab. Cohen schlief auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt und die Arme unter das Kissen geschoben, als umarmte er es. Wie ein Kind, das sich nach Nähe sehnte und stattdessen nur in Stoff gepresste Federn liebkoste.
So schlief er immer, ganz gleich wie Bellzazar ihn ablegte oder aus Interesse drehte und wendete, Cohen rollte irgendwann immer wieder in diese eine Position, das Gesicht nach Süden gerichtet. Bellzazar hatte viel Zeit gehabt, Cohens Schlafgewohnheiten zu studieren, seit dieser sich … wandelte.
Noch war sein Körper nicht vollständig regeneriert, er setzte sich aus dunkler Magie, schwarzen Partikeln und seinen Erinnerungen zusammen. Bellzazar hatte ihm ein Teil seines unsterblichen Herzens eingesetzt und nun floss durch Cohens Venen kein Menschenblut, sondern Wolfsblut. Aber seine Seele musste