Die Anschläge haben Verwirrung, Misstrauen und Trauer erzeugt und Hass geschürt.
„Was bringt es diesen Gruppierungen denn, Menschen in die Luft zu sprengen? Außer, dass ihnen jetzt nur noch mehr Wut entgegenschlägt?", fragte Martina Ganziger verzweifelt nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie. „Wieso haben sie meinen Sohn dazu gebracht, so etwas Schreckliches zu tun? Andreas war so ein guter Junge, sein ganzes Leben lang. Dann weckte irgendein Extremist sein Interesse an dieser Religion, und er entglitt mir völlig. Jetzt ist er tot und hat so viele Unschuldige mit in den Tod gerissen. Ich verstehe einfach nicht, wie das passieren konnte.“
Martina Ganziger traute sich seit den Attentaten nicht mehr vor die Tür.
„Sie glauben ja nicht, was ich schon alles im Briefkasten hatte. Die bringen mich noch um …“
Uwe L. Und Heike P. sind nicht mehr auffindbar, Julia F. verweigert jede Zusammenarbeit.
Ali Y. schlug unserem Team die Tür vor der Nase zu. Viele Überlebende sind so traumatisiert, dass sie nichts mehr hören oder sehen wollen. Die meisten verlassen das Haus kaum noch.
Deutschland ist seit dem 24.12.2016 ein Hexenkessel, in dem es brodelt. Linke und Rechte schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe, im Internet droht man mit weiteren Anschlägen, Demonstrationen werden gewaltsam niedergeschlagen. Die Trauer weicht der Wut.
Moscheen und Kirchen wurden niedergebrannt, muslimische Gemeindezentren mit Schweineblut besudelt.
Wie soll das noch enden, steht an die Wand des Hauses gesprüht, in dem Martina Ganziger sich versteckt hält.
Darauf kennt niemand die Antwort.
Nach Hause kommen
„Habt ihr auch die Pinsel gestern noch gewaschen?“
„Ja, hat Murat gemacht.“ Andreas hievte das Werkzeug in den Lieferwagen und sah seinen Chef stirnrunzelnd an. Der fand, Andreas hatte in letzter Zeit sehr schlechte Laune.
„Unsere Pinsel sind alle sauber“, versicherte Murat grinsend und reichte Andreas zwei Farbeimer.
„Gut. Dann steigt mal ein. Wir sind schon spät dran.“ Markus Derkwert schloss die Türen und setzte sich ans Steuer. Murat und Andy stiegen hinten ein.
Markus fuhr los und schaltete das Radio an, denn heute gab es komischerweise keine Gespräche. Murat sah seinen Freund zwar von Zeit zu Zeit irritiert an, aber Andy hatte seine Nase in ein Buch gesteckt. Das war auch gut so, denn so sah man Andys finsteres, inzwischen bärtiges Gesicht nicht.
Markus sah in den Rückspiegel und betrachtete Andys unordentlichen Haarschopf, der tief über sein Buch gebeugt war.
"‘Guidelines for a New World?` Was ist denn das?", fragte Markus überrascht.
Andreas zuckte mit den Schultern. „Eine sehr vernünftige Weltanschauung.“
„Aha. Und seit wann interessiert dich das?“
„Seit ein paar Wochen“, murmelte er.
„Ist das so etwas wie der Koran? Nix für ungut, Murat", setzte Markus hastig hinzu, "ich finde das nur etwas ungewöhnlich.“
„Ich auch. Das Buch da kenne ich nicht. Der Islam ist besser, da sei mal sicher. Willst du konvertieren, Andy? Das kannst du bei uns in der Moschee tun“, versicherte Murat eifrig.
Andreas brummelte nur etwas Unverständliches und las weiter.
Markus und Murat tauschten einen verständnislosen Blick im Rückspiegel.
„Endlich Pause.“ Erleichtert gesellte sich Murat zu Andy, der lustlos an seinem Brot kaute, und zündete sich eine Zigarette an. Sofort hob Andy den Kopf und sah seinen Freund scharf an.
„Was ist denn?«, fragte der verwundert.
Da fragst du noch? Du rauchst!«, donnerte Andy.
„Ja, und?«
Du weißt doch, dass das verboten ist?"
„Verboten? Hä?“
Na, bist du nun Moslem oder nicht?", fragte Andy scharf.
"Natürlich bin ich einer. Vom Rauchen steht nichts im Koran!"
"Aber dass man seinem Körper keinen Schaden zufügen soll! Und dass Rauchen schadet, ist ja wohl bekannt! Nimmt denn keiner mehr seine Religion ernst? Fürchterlich!"
„Woher weißt du denn, was im Koran steht? Ich dachte, dich interessiert nur dieser „‘Guidelines for a New World?‘ Langsam glaube ich, du spinnst. Wo kommt das denn auf einmal her?“
Ärgerlich schüttelte Andy den Kopf. „Nur, weil ich mein Leben lang in einer geistigen Wegwerfgesellschaft gelebt habe, muss das ja nicht heißen, dass es so bleibt. Ich weiß, was in Koran, Bibel, Tora und Talmud steht. Und was Buddha sagte. Es hält sich niemand mehr dran. Ich finde das heuchlerisch! Sieh doch nur einmal fern. Wie viele nackte Brüste du da zu sehen bekommst!“
Murat grinste. „So schlimm ist das ja nun auch wieder nicht.“
„Ein schöner Moslem bist du mir.“ Andreas schüttelte verächtlich den Kopf.
„Deinen Humor hast du heute wohl zu Hause gelassen?“ Murat musterte seinen Freund besorgt.
„Wirst du jetzt etwa zu so einem Fanatiker? Was sagt denn Jana dazu?“
Andreas‘ Gesicht verfinsterte sich. „Ich soll ein Fanatiker sein? Nur, weil ich mich mit Weltreligionen beschäftige?“
„Das ist immer so eine Sache. Man muss doch nicht anderen immer sagen, was sie zu tun haben, oder? Meine Eltern hängen mir schon immer an den Hacken, dass ich endlich heiraten soll. Jetzt fang du nicht auch noch an.“
Murat warf seine Zigarette weg und trat sie aus. Andreas brachte es fertig, dass einem nicht einmal mehr die Pausenzigarette schmeckte! Als er seinen Fuß wegnahm, bemerkte er etwas Rosiges und Rundes neben dem zertretenen Stummel.
„Was ist denn das?“ Er sah auf das fast aufgegessene Brot seines Freundes.
Bist du deswegen so schlecht drauf? Weil dir dein Schinken runtergefallen ist?«
"Runtergefallen? Das ist Fleisch!", donnerte Andreas. „Ich sollte mir meine Brote besser
selbst schmieren!“
„Äh, und was ist falsch daran?“,
„Es ist nicht erlaubt, Fleisch zu essen!“
„Ach? Wieso denn nicht?“
„Ist dir nicht klar, wie viel Weidefläche für die Haltung von Tieren benötigt wird? Wie viel Wasser und Strom? Mal davon abgesehen, dass das Töten von Tieren falsch ist!“
„Echt jetzt?“
„Natürlich.“
„Du isst also kein Fleisch mehr?“
„Und trinke keinen Alkohol und nehme auch sonst nichts mehr zu mir, was ich nicht unbedingt benötige. Alkohol schadet der Leber. Dann muss ich irgendwann in ärztliche Behandlung, Medikamente schlucken, die auch wieder aufwendig hergestellt werden müssen und brauche vielleicht sogar eine teure Operation. Alles Ressourcenverschwendung. Eher würde ich Insekten essen. Gutes Protein. Oder Menschen, davon gibt es ja nun wirklich genug!“
„Igitt! Du machst hoffentlich Scherze?“
„Wer weiß ...“
„Völlig bekloppt, was du da sagst. Ich finde das ziemlich merkwürdig.“
„Ich nicht. Das macht alles Sinn.“
Murat