„Soll ich ihm vielleicht sagen, dass ich mit seinem geliebten Religionslehrer ein Verhältnis gehabt habe, weil sein Vater mich nicht mehr wollte und unser Geld in diverse Spielautomaten geschmissen hat? Dass wir nur noch nebeneinander hergelebt haben? Dass ich mich allein und nicht mehr begehrt gefühlt habe? Als ob mich keiner mehr will, bis zu diesem Elternsprechtag?“
„Das ist immer noch besser, als dass er gar nichts weiß.“
„Zu spät. Ich habe ihm weisgemacht, dass ich einen One-Night-Stand in einer Kneipe hatte. Klingt doch auch viel interessanter.“ Martina goss sich und ihrer Freundin Gisela, genannt Gila, noch Wein nach.
Gila verzog zweifelnd das Gesicht. „Na, ich weiß ja nicht ...“
„Es ist besser so. Und Daniel kann seine Frau doch nicht verlassen! Sie sitzt jetzt im Rollstuhl. Diese Krankheit ist wirklich furchtbar. Ich rechne es ihm hoch an, dass er sich um sie kümmert. Dass wir zusammen sind, muss die Ärmste ja auch nicht wissen, das wäre noch schlimmer für sie.“
„Also trefft ihr euch weiterhin heimlich?“
Martina zuckte mit den Schultern. „Was bleibt uns anderes übrig? Solange Vera lebt, werden wir sie nicht verletzen. Das haben wir so verabredet, daran halten wir uns. Danach ... Schscht!“
„Hi.“ Andy kam die Treppe herunter, und winkte der besten Freundin seiner Mutter kurz zu.
„Hallöchen, Andy. Möchtest du auch Wein?“
Andy schüttelte heftig den Kopf. „Nein.“
„Nein danke, heißt das“, schnaubte Martina und sah ihren Sohn vorwurfsvoll an. Der achtete nicht darauf und starrte in den Kühlschrank.
„Mit Wein kann er eh nichts anfangen. Das ist ein richtiger Mann, der trinkt Bier“, grinste Gila. „Oder, Andy?“
Langsam drehte sich Andreas um, musterte Gila, die er seit frühester Kindheit kannte, und wandte betont den Blick ab.
„Ich trinke kein Bier“, knurrte er, nahm sich einen Becher Kakao, und stieg die Treppe wieder herauf, ohne sich noch einmal umzusehen.
„Kommt der jetzt erst in die Pubertät? Dass Steffi langsam bockig wird, ist normal, sie ist ja dreizehn. Aber Andy...? Kommt das bei Jungs später oder so?“, fragte Martina irritiert.
„Nein, Jungs zicken nicht so rum. Was hat der denn? Man könnte meinen, er war pikiert, weil ich einen Rock anhabe. Ich trage doch öfters Röcke. Oder bekomme ich langsam Krampfadern? Ist es nicht gemein, dass man immer so einen Scheiß kriegt, wenn man über vierzig ist?“
„Hat er dir wirklich auf die Beine gestarrt?“
„Ja! Aber leider nicht so, wie ich das gerne hätte“, lachte Gila. „Er guckte, als ob mir da gerade eine riesige Spinne darüber laufen würde. Irgendwie entsetzt und angeekelt.“
„So hat er heute auch geguckt, als ich ihm das mit dem One-Night-Stand in der Kneipe gesagt habe. Ob der unter die Moralapostel gegangen ist? Auf einmal?“
„Ist vielleicht nur eine Phase. Oder Hans hat doch Kontakt mit ihm und eine Menge Scheiße über dich erzählt. Und über mich auch. Der hat doch damals jedem die Schuld gegeben, er war das arme, unschuldige Opfer seiner Spielsucht. Weißt du nicht mehr?“
„Ja, stimmt. Aber irgendwie ... habe ich das Gefühl, dass er mich verachtet oder so was. Und nicht erst seit heute. Vielleicht hätte ich ihm doch sagen sollen, wie das damals mit seinem Papa war. Aber für ihn wäre das nicht schön, er hängt so an Hans. Soll er lieber weiter mir die Schuld geben.“
„Nee, das ist falsch! Er ist jetzt erwachsen. Er kann die Wahrheit verkraften.“
„Na ja ... vielleicht hast du recht ...“
„Geh schnell hoch und erzähle es ihm. Ich muss sowieso den Wein wegbringen.“ Mühsam erhob sich Gila und wankte zum Badezimmer.
Martina stand ebenfalls auf. Gila vertrug nach wie vor sehr wenig Alkohol. Bald schon würde sie zu lallen beginnen, albern werden und auf der Couch einschlafen, wenn sie noch ein Glas trank.
Martina ging die Stufen hoch und blieb kurz vor dem Zimmer ihrer Tochter stehen. Die Tür war mit einem großen „One Direction“ Poster bedeckt. Immerhin verdeckte es die Macken im Holz der alten Tür. Martina hatte damals ein Michael Jackson Poster gehabt. Sie fühlte sich uralt, wenn sie Steffis Poster ansah. Die Jungs darauf waren alle so jung. Und sie kannte keinen davon. Es war wohl ein Zeichen, dass man alt wurde, wenn einen die Boygroups und musikalischen Vorlieben
der Kids nicht mehr interessierten. Es war auch ein eindeutiges Zeichen, dass Martina den Zugang zu Steffis Welt verlor. Statt Märchenbüchern und Puppen hielten jetzt die Jungs Einzug. Nette Milchbubis mit glatten, weichen Gesichtern. In welchen ihre Tochter wohl verliebt war?
Bei Steffi lief leise der Fernseher. Martina runzelte die Stirn. Es war schon halb elf, aber vielleicht war Steffi beim Fernsehen eingeschlafen. Das passierte recht oft. Martina hob die Schultern und näherte sich dem Zimmer ihres Sohnes. Das war direkt gegenüber. Seine Tür schmückte ein Bushido-Poster. Sie hob die Hand, um zu klopfen, erstarrte aber, als sie leise eine sehr merkwürdige Musik vernahm.
Was hörte sich Andy denn da an? Sie drückte ihr Ohr gegen die Tür und erstarrte, als sie Andys Stimme leise, aber unverkennbar mitsingen hörte. Noch etwas unbeholfen klang es, aber ihr Sohn gab sich große Mühe, die schwierigen, fremd klingenden Laute genau zu imitieren.
Martina richtete sich mit klopfendem Herzen auf.
Ohne darüber nachzudenken, öffnete sie die Tür.
Andy saß vor seinem Computer. Der Bildschirm war die einzige Lichtquelle im Raum. Er starrte gebannt auf ein Video, bei dem unverständliche Worte durch das Bild liefen. Darunter waren deutsche Untertitel zu sehen. Martina entzifferte noch die Worte „... dass diese Weltreligionen der Ursprung allen Übels sind.“ Da fuhr Andy auf seinem Bürostuhl herum und schrie wütend: „Raus hier!“
Erschrocken zog Martina die Tür zu und flüchtete.
„Nanu? Das ging aber schnell!“ Gila hatte es sich wieder auf der Couch bequem gemacht.
Martina beachtete sie nicht, ging zum Barschrank und goss sich mit zitternden Händen einen Whisky ein.
„Tina? Was ist denn?“ Erstaunt sah Gila zu, wie ihre Freundin das Glas auf einen Zug leerte. Dann kam Martina wieder zurück, und ließ sich in ihren Sessel fallen.
„Du ... du glaubst das nicht! Der guckt sich da oben Videos gegen Religionen oder dergleichen auf YouTube an!“
„Oh ... nun ja, das muss man heutzutage tolerieren, wir erkennen doch jede Weltanschauung an.“
„Aber ... Er hat in so einer komischen Sprache mitgesprochen! Fast wie Chanting klang es, aber buddhistisch oder so was wie Yoga war es nicht.“
„Ja ...? Vielleicht etwas Neueres, das wir nicht kennen. Na ja, ist ja sicher auch nur eine Religion wie jede andere.“
„Meinst du?«
„Ja, na klar! Ja, es ist komisch, wenn sich junge Leute heutzutage überhaupt noch für Religionen interessieren. Aber so rücksichtslos, wie sich heute alle verhalten, fände ich etwas mehr Moral gar nicht schlecht. Es glaubt doch kaum noch einer an Gott.“
„Das schon. Durch die Aufklärung ... Früher war ein Blitz der Zorn Gottes, heute ist er nur noch eine elektrische Entladung. Alles ist erklärbar geworden. Die Menschen brauchen eben keinen Gott mehr. Aber dass Andy sich für so etwas interessiert ...“
„Vielleicht durch die Medien? Oder hat er in der Schule früher Freunde gehabt, die ihn dafür interessiert haben könnten?“
„Ja, schon. Der eine Typ, Anton, das war ein guter Freund von ihm. Der sah irgendwie spirituell aus. Der raucht und trinkt nicht, wirkt total selbstbewusst. Na ja, aber auch etwas arrogant. Der war vor ein paar Wochen mal hier, sagte nicht