Schlachtfest. Mia Wachendorf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mia Wachendorf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753198545
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der letzten Monate heimzahlen. Die Sache mit Eva, die Frauengeschichten, die er ihm kaputtgemacht hatte, alles.

      Marco blickte entnervt zu Boden.

      „Ich habe sie nicht angerührt. Und jetzt sag ich dir mal was. Das was der Frau passiert ist, geht auf eure Kappe! Ihr habt sie ausgezogen und ausgesetzt. Dann ist sie einem Perversen in die Hände gefallen, der sie vergewaltigt und umgebracht hat!“

      „Ja einem Perversen, das sehe ich genauso!“ Tom blickte ihm fest in die Augen. Endlich hatte er ihn in die Enge getrieben. Er kostete den Moment noch einmal voll und ganz aus. Jetzt war er selbst einmal der Coole. Doch Marco schien sich wieder gefasst zu haben und wollte sich nicht provozieren lassen. Er erwiderte seinen starren Blick.

      „Und? Was willst du jetzt machen, du Idiot? Es der Polizei erzählen? Dann erzählst du denen auch, was ihr gemacht habt, oder ich werde es erzählen. Und was denkst du, was die dann glauben? Ein paar notgeile kleine Jungs haben Panik gekriegt und ihr Opfer mundtot gemacht, das werden sie denken! Ihr hängt da genauso drin!“

      „Du Scheißkerl!“ Tom platzte wieder der Kragen. Er wollte auf ihn losgehen.

      „Hey! Hey! Ganz ruhig!“ Marco hob abwehrend die Hände. „Das bringt uns nicht weiter, wenn wir uns an die Gurgel gehen!“ Tom ließ sich wieder zurück auf die Matte fallen und starrte auf seine Füße. Für einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen.

      „Wir müssen zusammenhalten! Für unsere gemeinsame Sache. Und für uns selbst“, beschwor Marco ihn.

      Wieder einmal hatte Tom keinen wirklichen Trumpf in der Hand. Marco hatte Recht. Was er und eine Handvoll Leute aus dem Camp mit der Frau gemacht haben, war nicht in Ordnung, auch wenn sie ihr nur eine Abreibung verpassen wollten. Und nun machte es sie möglicherweise für einen Mord verdächtig. Das würde ihn davon abhalten, der Polizei alles zu erzählen. Auch wenn dieses Schwein wieder einmal davonkommen würde.

      „Also gut“, sagte Tom schließlich. „Für die gemeinsame Sache. Und nur dafür.“

      Marco hatte ihn ausgetrickst. Er hatte die Situation ausgenutzt, und jetzt hingen sie da alle drin. Für einen Mord, den sein schärfster Widersacher begangen hatte, wollte er nicht geradestehen müssen. Aber irgendwann würde er es ihm heimzahlen. Irgendwann.

      #

      Sie hatte ihr Emsland wieder. Es war nicht unbedingt gewollt, aber nach der Trennung war es für Enna das Beste. In Münster gab es keine Alternative. Rüdiger war der stellvertretende Polizeipräsident. Irgendwie wären sie über ihre Arbeit immer verbunden gewesen, wenn sie geblieben wäre. Sie hatte einen klaren Schnitt gewollt und sie hatte ihn bekommen. Neben Münster gab es für sie nur einen Ort, an dem sie sich vorstellen könnte zu leben. Ihre Heimat. Und so hatte Rüdiger seine Beziehungen spielen lassen und ihr den Posten der Hauptkommissarin in Maarsum besorgt, Revier Sachsenstraße 10. Trotz allem hatten sie sich im Guten getrennt, einvernehmlich. Da war kein Mittelweg. Enna war nicht der Typ für Kompromisse, für sie gab es nur Alles oder Nichts. Sie hatte ihn gewollt, ganz und gar. Nach drei Jahren hatte sie geglaubt, das Recht zu haben, mehr zu fordern. Sie hatte sich geirrt. Von jetzt an wollte sie keinen Kontakt mehr mit ihm, das hatte sie ihm ganz klar mitgeteilt. Ihr Abschied war still, noch nicht einmal ein ‚Melde dich mal!‘ Sie waren fast wortlos auseinander gegangen, ein leiser Vorwurf in seinen warmen braunen Augen. An Freundschaft zwischen ehemaligen Partnern hatte sie noch nie geglaubt.

      Enna lag wieder auf ihrem Sofa, zu erschöpft, um noch ein Buch in die Hand zu nehmen. Sie hatte den Fernseher für die Nachrichten eingeschaltet. Der Tag hatte so viel Kraft gekostet, dass sie nur daliegen und ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen konnte. Nicht einmal das Neueste vom Tage nahm sie wahr. Was konnte es auch Schlimmeres geben, als eine getötete junge Frau? Mitten aus dem Leben gerissen, nur wenig jünger als sie selbst. Sie hatte es der toten Susanna von Angesicht zu Angesicht geschworen und wiederholte diesen Schwur noch einmal vor sich selbst. Sie würde Susannas Mörder finden. Hatte sie beim Gedanken an Rüdiger noch ihre Gefühle verdrängen können, gab es nun kein Halten mehr. Die warmen Tränen liefen ihr Gesicht herunter und benetzten den Bezug des Sofas. Sie würde nie begreifen, was Menschen dazu trieb, einen anderen zu töten. Es fehlte ihr jegliches Verständnis, wie man einem menschlichen Wesen das antun konnte, was es am meisten fürchtete: Den Verlust des eigenen Lebens. Die größtmögliche Respektlosigkeit, die es auf der Welt gab. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass man sich wehrte und zuschlug, um das eigene Leben zu retten. Auch dass die Gegenwart eines anderen Menschen unerträglich werden konnte, aber die vorsätzliche Tötung wollte ihr nicht begreiflich werden. Es gab immer eine Möglichkeit den Vorsatz zu vermeiden, zum Beispiel durch Flucht. Sie hatte viel mit Rüdiger über solche Dinge diskutiert, Ursachen und Anlässe, warum Menschen Verbrechen begingen. Rüdiger hatte einen unglaublichen Wissensschatz, was Kriminalistik betraf, und sie hatte es geliebt und davon profitiert, sich mit ihm darüber auseinander zu setzen.

      Enna schaltete den Fernseher aus und drehte sich schwungvoll auf die Seite, als könne sie so den Schmerz aus ihrer Seele schütten. Rüdiger von Hatten war ihr Leben gewesen. Er war in ihrem Kopf, seit mehr als drei Jahren. Und da wollte er nicht so einfach verschwinden. Sie ahnte, dass seine Vertreibung aus ihren Gedanken ein langwieriger Prozess sein würde.

      Es war still im Haus. Er fehlte ihr so. Die einzigen Geräusche, waren die der Dämmerung, die durch die geöffnete Terrassentür nach innen drangen. Die wunderschön melodisch singende Amsel auf ihrem Zaun und der Wind in den Bäumen an ihrer Grundstücksgrenze. Die Tränen wollten nicht aufhören zu fließen und sie hielt sie nicht zurück. Irgendwann würden sie versiegen. Irgendwann würde wieder alles gut sein.

      Sie musste eingeschlafen sein. Das Klingeln des Mobiltelefons drang aus weiter Ferne zu ihr durch. Hastig erhob sie sich und blickte auf das Display. Rüdiger. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, doch sie zögerte. War es vernünftig, jetzt mit ihm zu sprechen? Sie brauchte ihn jetzt, also nahm sie ab.

      „Hi, wie geht’s?“ Ihre Stimme klang schrill und heiser.

      „Guten Abend!“ Rüdiger hatte aufgehört, sie mit ‚Schatz‘ oder ‚Liebste‘ anzureden, wie er es früher getan hatte. „Wie war das erste Wochenende in der neuen alten Heimat?“ Enna schluckte. Es tat so gut, seine vertraute Stimme zu hören und sie wünschte, sie wäre bei ihm. Seit der Trennung hatte sie ein dumpfes Gefühl der Trauer in der Magengegend, jedes Mal, wenn sie sich begegneten oder telefonierten.

      „Hier ist ein Mord passiert“, platzte sie heraus. „Ich war schon heute im Einsatz, nix mit Wochenende!“

      „Oh, tut mir leid. Da wirst du gleich ins kalte Wasser geworfen.“

      „Ist ja nicht so, dass das neu für mich wäre“, wiegelte Enna ab. Sie wollte nicht als Weichei vor ihm dastehen. Mordfälle hatte sie in Münster schon mehr als einen bearbeitet.

      „Ich weiß. Und du schaffst das. Ich hätte dir nur gewünscht, dass dein Einstieg in den neuen Job etwas gemächlicher abläuft“, sagte er mitfühlend.

      „Lieber ein Sprung ins warme Wasser“, lachte Enna. „Das hätte ich mir auch gewünscht, das kannst du mir glauben. Aber was soll’s. Ich habe alles im Griff.“ Sie merkte, wie gut es tat, mit ihm zu sprechen. Doch die Vernunft meldete sich zurück.

      „Warum rufst du an?“, fragte sie ihn. Die Leitung war so lange still, dass sie fast glaubte, er hätte aufgelegt.

      „Ich wollte deine Stimme hören“, gab er dann zu. Enna atmete tief durch.

      „Hör mal, du weißt, was wir abgesprochen haben.“

      „Ich weiß. Aber es ist das erste Mal, dass wir so endgültig getrennt sind, und so weit voneinander entfernt“, jammerte er.

      „Rüdiger, es gibt kein ‚wir‘ mehr. Ich möchte, dass du das begreifst.“ Er sollte sie gut genug kennen, um zu wissen, dass sie einen einmal gefassten Entschluss durchzog, mit allen Konsequenzen. Es war nicht fair, sie auf eine Beziehung anzusprechen, gleich welcher Art diese wäre.

      „Nur dies eine Mal“, wiegelte er ab. „Unser Abschied war irgendwie so stumm. Ich