„Jetzt sind wir Blutsbrüder, für die Ewigkeit. Das Schicksal wird es gut mit uns meinen und zusammen wird uns nichts geschehen. Nicht wahr Kel?“
Kel hatte sich bei Jards Worten an seinem Kürbissalat verschluckt. Er hustete und bekam einen knallroten Kopf. Hastig tastete er nach seinem Becher, doch er griff daneben und stieß den Becher um. Voller Erstaunen beobachtete Liva, wie der Becher kippte, doch plötzlich stockte er auf halber Höhe und sprang zurück auf seine Ausgangsposition, ohne dass ein Tropfen Wasser überschwappte. Ja, sie hatte ganz richtig gesehen, der Becher sprang einfach zurück, anstatt seinen vollen Inhalt über Kels blütenweißes Seidenhemd und die geschnürte dunkelblaue Weste, ein Erbstück von Jard, zu ergießen. Kel schien sich von Liva, die das Geschehene mit angesehen hatte, ertappt zu fühlen, sofort lief er wieder rot an und wich ihrem Blick aus. Dabei wusste doch jeder in diesem Haus, dass Kel, genau wie ihr Bruder, ein Magieträger war, warum nur machte er so ein Geheimnis daraus?
„Ich kann es kaum erwarten, dass wir endlich aufbrechen zum Tempel des Westens. Die Insel Eriu soll ja die schönste im ganzen Reich der vier Himmel sein...“, plapperte Jard mit leuchtenden Augen weiter und merkte nicht einmal, dass ein Stück krümeliger Büffelkäse an seinem Mundwinkel klebte.
„Ich bin froh, dass ich die Entscheidung, euch schon diesen Sommer zur Ausbildung in den Tempel zu schicken, getroffen habe und ich hoffe, ich werde sie nicht bereuen“, sagte ihr Vater. Dann blickte er Kel streng an. „Kel, mein Junge, ich hoffe, dein kleiner Schwächeanfall von heute wird nicht zur Regel. Der Ruf unseres Hauses steht auf dem Spiel. Und von dir, mein Sohn, erwarte ich exzellente Erfolge im Erlernen der Heilmagie unter Großmeister Nakoro. Aracon braucht endlich einen fähigen Magieheiler. Es wird Zeit, dass diese ganzen Scharlatane, die es kaum schaffen, Wasser für einen Teeaufguss mit Magie zu erhitzen, das Haus der Heiler räumen. Wenn du erst zurück bist aus dem Tempel, wirst du die Führung des Heilerhauses von Aracon übernehmen.“
Liva kaute mürrisch auf einem Stück Fleisch. Jetzt reichte es ihr. Wieder einmal stieg ein unbeschreiblicher Neid den beiden Jungen gegenüber in ihr auf. Immer ging es nur um Jard und Kel. Und was war mit ihr?
Die beiden durften alle erdenklichen Dinge tun, von denen Liva nur träumen konnte. Sie konnten sich überall frei bewegen, durften auf Pferden reiten, raufen, kämpfen oder einfach in der Gegend herumrennen, während sie das Haus nur in Begleitung eines männlichen Familienmitgliedes verlassen durfte. Ihre Aufgabe war es in erster Linie, sich auf die Rolle einer Söhne gebärenden, demütigen Ehefrau vorzubereiten, die sich um den Haushalt kümmerte und hin und wieder Harfe für erlesene Gäste spielte, was ihr allerdings gehörig widerstrebte. Ihr Glück war es, dass Liva zur gesellschaftlichen Oberschicht gehörte, die mehr Privilegien besaßen, als einfache Bäuerinnen, dennoch war sie eingeschränkt und sie erwartete ebenso harte Strafen für ungebührliches Verhalten, wie die Frauen der unteren Schichten.
Sie sah nicht länger ein, dass man ihr kaum Beachtung schenkte, schließlich war sie, im Gegensatz zu Kel, ein echtes Familienmitglied. Sie schäumte vor Wut. Diese ständige Benachteiligung der Frauen musste doch irgendwann ein Ende haben. Allein schon, dass nur männliche Magieträger geboren wurden, empfand sie als entsetzliche Ungerechtigkeit.
„Ob ich wohl auch ein Magieträger geworden wäre, wenn ich nicht als Mädchen geboren wäre?“
Sie blickte fragend in die Runde. Sofort stellte sie fest, dass ihre Mutter einer Ohnmacht nahe war, zumindest hechelte diese angestrengt nach Luft und fuchtelte mit ihrem bunt bestickten Seidenfächer herum. Ihr Vater verengte die Augen und sah sie an, als wolle er sagen: „Wer hat dich aufgefordert zu sprechen?“ Liva hielt dem strengen Blick ihres Vaters stand. Zu ihrer Überraschung schwieg er und schlürfte stattdessen einen Löffel voll Fischsuppe.
„Du bist aber ein Mädchen, Schwesterlein, also hör auf, dir unnötige Gedanken über Dinge zu machen, die man nicht ändern kann“, sagte Jard und stopfte sich ein süßes Hefebällchen in den Mund.
Wütend presste Liva ihre Lippen aufeinander. Ihr Blick fiel wie zufällig wieder auf Kel, der sich ganz klein auf seinem Stuhl gemacht hatte.
„Ich bin mir sicher, ich könnte als Magieträger viel mehr als nur Teewasser zum Kochen bringen und im Übrigen halte ich auch Kel für talentierter, als jeden einzelnen Magieheiler in ganz Aracon.“
Kel blickte sie perplex an. Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch dann schloss er ihn wieder, da Jard zu sprechen begann: „Kel will Kämpfer werden, kein Heiler.“
„Ich habe ja auch nicht gesagt, dass er sich zum Heiler eignet oder einer werden soll. Ich sagte nur, dass seine Fähigkeiten, meiner Meinung nach, unterschätzt werden. Mit seinem Talent könnte er doch zur königlichen Armee gehen. Ich habe mal gehört, die suchen ständig begabte Magieträger.“
„Seit wann kennst du dich mit derartigen Dingen aus? Kriegsführung ist nicht gerade ein Thema für Frauenohren“, sagte Jard mit hochgezogener Braue, worauf Liva empört ihre Zähne aufeinander presste. „Und woher weißt du überhaupt, welche Fähigkeiten Kel besitzt? Er wendet selten Magie an.“ Um sich zu vergewissern, ob er in Kels Sinne gesprochen hatte, wandte Jard seinen Kopf zu ihm. Kel war indes noch blasser geworden als zuvor. Es schien gerade so, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
***
Kel war ganz übel geworden. Ihre zitternden Hände hatte sie für den Rest des Abends unter der Tischplatte versteckt und kaum noch einen Bissen herunter bekommen. Livas Blicken war sie so gut es ihr gelang ausgewichen, dennoch hatte sie sie auf ihrer Haut gespürt wie Nadelstiche.
Nun atmete sie tief ein und wieder aus. In der Sicherheit ihrer Kammer fiel die Anspannung allmählich von ihr ab.
Sie war durcheinander, einerseits freute sie sich wahnsinnig auf Eriu und den Tempel. Doch nun hatte sie plötzlich Zweifel. Seit drei Jahren hatte sie darauf hingearbeitet. Nichts hatte sie sich mehr gewünscht, als dort die alte Kampfkunst zu erlernen. Aber, war es wirklich ihr Wunsch gewesen? Oder hatte Vardan sie – seit sie bei ihm war – so sehr manipuliert, mit seinen Lobreden über ihr Kampftalent, dass sie nur dachte, es sei das einzig Richtige. Aber welche Alternativen blieben ihr schon? Seit mehr als fünf Jahren gab sie nun schon vor, ein Junge zu sein, hatte unermüdlich die Bewegungen von Männern beobachtet, ihre Art zu gehen, mit den weit schwingenden Armen und ihre Sprechweise imitiert. Sie hatte keine Ahnung was Frauen und Mädchen taten oder wie sie lebten, aber das wenige, was sie über deren Lebensweise wusste, gefiel ihr nicht. Es gab kein zurück.
Kapitel 3
Ein unbeschreiblicher Schmerz in ihrer Brust ließ ihren Atmen stocken. Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren. Sie öffnete ihre Lippen zum Schrei, aber sie blieb stumm. Das Letzte was sie sah, war ihre kalkweiße Hand, die sie flehend von sich streckte, bevor sich ein schwarzer Schleier vor ihre weit aufgerissenen Augen legte. Dann war alles still, doch ihre unausgesprochenen Worte drangen an die Ohren des Mannes, der einen Dolch in ihr Herz gerammt hatte. „Dhakur nes ourih!“
Kel fuhr aus dem Schlaf hoch und unterdrückte in letzter Sekunde einen Schrei. Sie rieb sich übers Gesicht und bemerkte, dass es nass war. Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf ihr Nachtgewand. War es dieser seltsam reale Traum, der diese melancholische Stimmung ausgelöst hatte, die sich in ihrer Brust ausbreitete? Kel war sich sicher, diesen Traum nicht zum ersten Mal geträumt zu haben.
Doch sie konnte die Zusammenhänge nicht einordnen. Ergaben die rätselhaften Worte einen Sinn oder handelte es sich nur um wirres Zeug, wie es in Träumen häufig vorkam? Am Ende entschied sie sich, dem Traum keine große Bedeutung beizumessen und legte sich wieder schlafen. Doch Schlaf stellte sich nicht ein. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. Was, wenn die Männer des Westtempels erkannten, das Kel ein Mädchen war? Noch dazu eine Magieträgerin! Was würden sie wohl mit ihr tun? Sie verhaften, wie die Nachbarsfrauen, die nur harmlose Tinkturen hergestellt hatten? Oder würde man sie in eines der roten Häuser verkaufen, wo Männer ihr alle erdenklichen Abscheulichkeiten