Von irgendwo strömte der Duft namenloser Köstlichkeiten in seine Nase und nagte an seinem Verstand. Wenn er es wagte, in einer Gegend wie dieser zu betteln, bestand die Gefahr, verhaftet zu werden, doch der quälende Hunger raubte ihm jegliche Vernunft. Zögerlich näherte er sich einer Gruppe Männer, die vor einem imposanten pfirsichfarbenen Gebäude mit roten Ziegeln eine rege Unterhaltung führten. Einige trugen reich verzierte Kopfbedeckungen, die man Kausia nannte und die sie als angesehene Bürger klassifizierten. Ein Mann jedoch trug auffälligen Schmuck und weitaus prächtigere Gewänder in dunklen Blautönen als alle anderen. Schon auf den ersten Blick erkannte man, dass er ein hohes Amt bekleidete oder zumindest eine überaus wichtige Persönlichkeit war.
Mit geöffneten Händen trat Kel auf die Männer zu. „Habt erbarmen...“, stammelte er, „...ich habe solchen Hunger, nur ein paar Cuan für eine Schale Getreidebrei würden mir genügen...bitte...“
Die Männer mit den Kausias musterten Kel von Kopf bis Fuß, die Empörung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Zeit schien einen Moment stehen zubleiben und Kel überlegte, ob er lieber die Beine in die Hand nehmen und von diesem Ort flüchten sollte. Das unergründliche Schweigen und die erbosten Mienen der Männer ließen nichts Gutes erahnen. Dann ergriff einer der Männer endlich das Wort: „Betteln ist hier verboten! Mach dass du in dein Viertel verschwindest, Bengel, bevor wir die Stadtwachen rufen!“ Der Mann wurde ganz rot unter seiner hellbraunen Kausia. Verängstigt wich Kel vor dem Mann zurück.
Unerwartet spürte Kel jedoch eine sanfte Berührung. Es war der Edelmann, der Kel seine Hand auf die Schulter gelegt hatte. Mit der anderen Hand hantierte er an seinem Geldbeutel, der an seinem prunkvoll verzierten Gürtel hing, und nach ein Paar Handgriffen förderte er eine Silbermünze zu Tage. Bei dem Anblick schluckte Kel seinen trockenen Speichel so heftig herunter, dass es in seinem Hals schmerzte. Das Silberstück musste mindestens dreißig Targesh wert sein.
„Udris, mein lieber Freund“, wandte er sich an den Mann, der Kel zuvor so grob zurechtgewiesen hatte. „Der arme Junge hat doch nur Hunger. Hunger ist wahrlich ein qualvolles Gefühl, das Ihr – mein lieber Udris – sicher nicht kennt. Bedenkt, dass niemand etwas dafür kann, in welche Gesellschaftsschicht er hineingeboren wird. Niemand kann sich seine Eltern aussuchen. Allein das Schicksal entscheidet darüber.“ Die sanfte Stimme des Edelmannes wirkte seltsam beruhigend auf Kel, dessen nervöser Herzschlag sich daraufhin normalisierte. Die anderen Männer schienen den Worten nur widerwillig zuzustimmen, doch milderte sich ihre geringschätzige Mimik ein wenig.
„Wie Ihr meint, ehrenwerter Stadtverwalter Vardan“, murmelte der Mann namens Udris.
Die Münze landete in Kels Handfläche.
Seine Augen begannen zu glänzen und wurden so riesig, dass der Wohltäter beinahe befürchten musste, sie könnten jeden Moment aus ihren Höhlen fallen. Kel wiederholte mehrmals hektische Gesten der Dankbarkeit und verbeugte sich immer wieder, als handele es sich hier um eine Begegnung mit dem König des Reichs der vier Himmel. Er umschloss die Münze fest mit seinen schlanken Fingern und entfernte sich, noch immer verneigend, von der Gruppe. Als sie außer Hör- und Sichtweite waren, stieß Kel einen Jubelschrei aus und rannte in die Richtung aus der die verführerischen Düfte strömten. An der nächsten Straßenabbiegung blieb er wie erstarrt stehen. Gegenüber lauerten Ocai und seine Kameraden. Sie waren in Begleitung eines uniformierten Mannes, der zweifellos der Stadtwache angehörte.
„Da, das ist er!“, hörte Kel Ocai brüllen. „Das ist der Kerl, der uns so zugerichtet hat. Er muss ein Magieträger sein, der seine Kräfte missbraucht hat, um uns zu verletzten!“
Kel gefror bei diesen Worten das Blut in den Adern. Magieträger? Unmöglich!
Die anderen Jungen zeigten mit wilden Gebärden auf Kel, worauf der Wachmann schnurstracks die Straße überquerte und auf Kel zueilte.
„Hier geblieben Bürschchen!“, brüllte der Gesetzeshüter. Doch Kel war schon in die entgegengesetzte Richtung losgeprescht. Die Straßen waren ihm unbekannt, aus Angst in einer Sackgasse zu landen, wie es sie in seinem Viertel massenhaft gab, wählte er die Richtung aus der er zuvor gekommen war. Von weitem erkannte er die Männer, die noch immer vor dem imposanten Gebäude standen und debattierten. Doch noch bevor er die Gruppe erreichte, packten ihn kräftige Hände bei den Schultern. Kel geriet ins Straucheln. Weitere Arme ergriffen ihn von hinten und hielten ihn fest. Er presste seine Faust mit der Silbermünze fest zusammen, damit sie nicht verloren ging.
„Ich habe nichts getan!“, kreischte er in Panik. „Lasst mich los!“ Unsanft zerrte der Wachmann an Kels Arm, sodass dieser sich unfreiwillig zu ihm umdrehten musste, während Ocai seinen Körper noch immer fest im Griff hatte. Kel wand sich vor Schmerzen, was Ocai jedoch nur dazu veranlasste, noch brutaler zuzupacken.
„Was versteckst du da?“ Der Wächter ergriff Kels Faust und versuchte sie gewaltsam zu öffnen. Kel presste seine Finger so fest er konnte zusammen, doch der Mann war viel stärker, sodass er schließlich nachgab. Sobald die Münze zum Vorschein kam, untersuchte der Wachmann sie zwischen seinen wulstigen Fingern, dann verzog er seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Was haben wir denn da, Bürschchen? Nicht nur, dass du ein gewissenloser Magieträger bist, obendrein noch bist du noch ein Dieb!“
„Ich bin kein Dieb und auch kein Magieträger!“
„Ach nein? Und wie erklärst du dann das hier?“ Ocai verzog zornig sein von purpurroten Striemen entstelltes Gesicht.
„Ich war das nicht, bitte lasst mich gehen!“, flehte Kel. In seinem Inneren spürte er eine brodelnde Hitze bis zur Brust aufsteigen.
Befreie dich!
Wieder diese vertraute sanfte Stimme, die ihm Mut zusprach und die ihm plötzlich eine unbegreifliche Stärke verlieh. Mit einem Ruck befreite sich Kel aus dem Griff des Wachmanns. Eine weitere flinke Bewegung und er entwischte auch Ocai, doch dieser reagierte ungeahnt schnell und schnappte nach Kels Handgelenk. Ohne darüber nachzudenken, wirbelte Kel im Halbkreis herum, riss sein Bein in voller Länge in die Höhe und verpasste seinem Gegner einen kräftigen Hieb mit seinem Fuß, der ihn an der vernarbten Schläfe traf. Eine solch außergewöhnliche Fußtechnik beherrschten für gewöhnlich nur Kämpfer, welche die traditionelle Kampfkunst in einem der fünf Ausbildungstempel erlernt hatten. Doch Kel hatte als Kind lediglich den Kämpfern bei ihren Übungen zugeschaut, denn als er noch mit seiner Großmutter im Apfelblüten-Viertel gewohnt hatte, gab es direkt gegenüber ihrer Wohnstätte ein großes freies Feld, das die Krieger des araconischen Heeres gerne für Kampfübungen nutzten. Während Nona beharrlich mit Körbe flechten beschäftigt war, beobachtete Kel am liebsten die waffenlosen Kämpfer, die unermüdlich ihre anmutigen, kraftvollen und blitzschnellen Bewegungen perfektionierten. Stundenlang hatte er ihre Kampftechniken studiert, sie sogar versucht zu imitieren, doch seit er auf der Straße lebte, hatte er keine Kämpfe mehr gesehen, geschweige denn selbst Techniken trainiert. Umso überraschter war er über seinen präzisen Fußtreffer in Ocais Gesicht. Kel ergriff erneut die Flucht, doch die beiden anderen Jungen waren ihm auf den Fersen und holten ihn bald ein. Sie kamen schnell näher und versuchten ihn einzukreisen. Kels Herz raste wie wild in seiner Brust, sein Atem ging hastig und brannte in seiner Lunge. Doch da stieß Kel unerwartet zum Angriff vor, was ihn beinahe mehr überraschte als den Jungen, dem er eine pfeilschnelle Faust in den Magen rammte. Dann wirbelte Kel herum und brachte den anderen mit einem gezielten Fußtritt zu Fall. Beide blieben regungslos am Boden liegen, lediglich ihr schmerzvolles Stöhnen offenbarte Kel, dass er sie nicht umgebracht hatte. Dennoch zitterte er am ganzen Körper, die Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen, doch er musste hier so schnell wie möglich verschwinden.
Von weitem waren die wütenden Rufe des Wächters zu hören. „Haltet den Burschen, lasst ihn nicht entkommen!“
Verzweifelt suchte Kel nach einem Fluchtweg aus diesem Viertel. Passanten hatten sich in einigem Abstand versammelt und das ganze Geschehen beobachtet. Doch ihren Blicken war nicht zu entnehmen, ob sie nun Abscheu oder Bewunderung empfanden, für den schmutzigen Straßenjungen, der soeben drei wesentlich stärkere Gegner überwältigt hatte.
Inmitten der vielen