Die erste Legende von Ashamur. Eileen Schlüter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eileen Schlüter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753191638
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er sich neben seine Frau und biss gierig in eine saftige Chamshi.

      „Was war das für ein Brauch?“, fragte Jard interessiert. „Mir scheint, Ihr seid nicht von hier.“

      Der Mann berührte die Stelle auf seiner Brust, wo die Figur unter seiner Kleidung lag.

      „Wir sind aus Ashamur. Seit sechs Tagen sind wir unterwegs. Wir wollen zur Insel Katuri, denn dort sind wir sicher!“ Der Mann war sichtlich aufgeregt, während er sprach; zudem blickte er ständig in den Himmel, als suche er dort etwas.

      „Sicher wovor?“, erkundigte sich Kel.

      „Vor der Prophezeiung, Junge!“, zischte die Frau unter ihrem Halbschleier hervor.

      „Ruhe Weib! Wer hat dich gefragt?“, brummte der Mann.

      Die Frau blickte rasch zu Boden.

      „Es wird zurückkehren und nichts als Verwüstung hinterlassen. Ich spüre es. Ich bin kein großer Magieträger, aber ich habe es in den schwarzen Wolken gelesen, die über die Königsstadt zogen. Es wird kommen! Ich habe es den anderen gesagt, doch sie glaubten mir nicht. Sie sind verdammt! Daraufhin haben wir unser Hab und Gut gepackt und sind losgefahren. Katuri ist ein sicherer Ort, denn die Insel gehört nicht zum Reich der vier Himmel. Dort wird diese Kreatur uns nicht finden.“ Wieder starrte der Mann in den Himmel, offenbar fürchtete er, die düsteren Wolken könnten ihn bis hierher verfolgt haben.

      „Eine Prophezeiung sagt Ihr?“ Jard kratzte sich am Kinn. „Von welcher Prophezeiung genau sprecht Ihr? Es gibt dutzende, dreiviertel davon wurden erfunden, um Kindern das Fürchten zu lehren.“ Kel bemerkte, dass Jard die Geschichte des Mannes genauso wenig ernst nahm wie sie selbst. Doch der Aberglaube war fest verankert in den Köpfen vieler Menschen.

      Eine Prophezeiung, von der sie immer wieder gehört hatte, offenbarte beispielsweise, dass die Sonne nie wieder scheinen werde und die Menschen in ewiger Dunkelheit leben sollten, wenn sie nicht vor Mitternacht in ihren Betten lagen. Aus diesem Grunde war vor Jahrhunderten die Sperrstunde eingeführt worden, an die sich weniger als die Hälfte der Menschen hielt. Angst, dass die Sonne nie wieder scheinen würde, hatte sie längst nicht mehr.

      „Ihr glaubt mir nicht?“, fuhr der Mann die beiden an. „Ich sehe es in euren Augen! Ich sage euch, flieht solange ihr noch könnt, Burschen!“ Er sprang auf die Füße und zerrte seine Frau sogleich mit sich. Er schob sie unsanft auf den Karren, stopfte dem Büffel den Rest seiner Chamsi ins Maul und schwang sich auf den Kutschbock.

      „Unser aller Untergang naht!“, rief er mit mahnender Stimme und knallender Peitsche. Der Karren setzte sich in Bewegung. Kel und Jard verfolgten ihn mit skeptischen Blicken, bis er um eine Kurve verschwunden war.

      „Wen meinte er mit es?“, fragte Kel. Achselzuckend kramte Jard in seinem Beutel nach einer Pflaume.

      „Ich glaube, er sprach von einer Kreatur. Was auch immer man darunter versteht. Ich glaube zwar an Magie, immerhin sind wir selbst Magieträger, aber alles hat seine Grenzen. Zum Beispiel kann niemand – nicht einmal der beste Magieheiler – jemanden wieder vom Tode erwecken. Genau deswegen, glaube ich auch nicht, dass es etwas so Mächtiges gibt, das die Welt einfach zerstören kann.“

      „Du hast sicher Recht“, erwiderte Kel und blickte in den Himmel. Für eine Schreckenssekunde meinte sie, eine Düsternis über ihnen zu erkennen, doch als sie den Blick schärfte war dort oben nichts als ein tiefblauer Sommerhimmel.

      Kapitel 4

       Insel Eriu, Ausbildungstempel des Westens

      Aris liebte die traditionelle Kampfkunst, ebenso wie den Schwertkampf. Sein Ziel war es, beides so weit zu perfektionieren, um eines Tages als bedeutendster Kämpfer des Vierhimmelreichs in die Geschichtsbücher einzugehen. Und diesem Ziel kam er stetig näher. Zwei Jahre lang hatte er im Ausbildungstempel des Nordens täglich viele Stunden den Schwertkampf unter Großmeister Seki trainiert. Kein anderer Schwertkämpfer konnte ihm das Wasser reichen. Niemand war so schnell und wendig wie Aris. Die Tätowierung einer sich um ein Schwert windenden Schlange, auf seinem rechten Unterarm, zeugte von seiner ausgezeichneten Leistung und der abgeschlossenen Ausbildung. Nun wollte Aris sich voll und ganz auf den traditionellen, waffenlosen Kampf konzentrieren. Großmeister Nakoro vom Westtempel war nun sein neuer Lehrmeister. Seit einem Jahr und neun Monaten lebte Aris nun im Tempel des Westens. Er fühlte sich wohl auf der Insel Eriu. Nicht umsonst wurde sie die schönste Insel des Reiches genannt, mit ihren vielen uralten Bäumen, die im Frühling in allen erdenklichen Farben erblühten und deren Sommerlaub eine Farbenvielfalt zwischen zartem Rosa und kräftigem Azurblau aufwies. Nirgendwo sonst war die Natur so außergewöhnlich und schillernd wie auf Eriu. Das Klima war das ganze Jahr über mild und hier nahm man die alten Kräfte der Natur sehr intensiv wahr, insbesondere wenn man sich der Meditation hingab. Doch auch etwas Mystisches war hier spürbar. Den alten Sagen nach, waren auf dieser Insel, fernab der Königsstadt Ashamur, angeblich die Überreste eines alten Herrschergeschlechts von gefürchteten Halbwesen verscharrt worden, nachdem das Reich vor über viertausend Jahren von der ersten Dynastie und Herrscher Od-Khato übernommen wurde. Auch wenn Aris nicht wusste, wie viel von den althergebrachten Erzählungen der Wahrheit entsprach und wie viel Einfallsreichtum und Aberglaube sich im Lauf der Jahrhunderte darunter gemischt hatte, so spürte er doch eine gewisse Mystik.

      Aris saß auf einem Gras bewachsenen Hügel über der sandigen Meeresküste und meditierte. Er trug ein traditionelles senfgelbes, knielanges Meditationsgewand, das um die Taille herum mit einer schwarzen Seidenschärpe gebunden wurde. Darunter lockere Hosen derselben Farbe. Sein dunkelblondes Haar hatte er mit einem Stirnband fixiert, sodass es ihm nicht ins Gesicht und die Augen fiel. Die warmen Strahlen der untergehenden Frühsommersonne tauchten die hügelige Landschaft in ein schimmerndes Rot-Orange während das Wasser des Ozeans wirkte, als hätte jemand Blut hineingemischt. Er verharrte noch ein wenig gelöst im Lotussitz, als er in der Ferne zwei dunkle Punkte bemerkte, die sich näherten. Dem aufgewirbelten Staub nach, musste es sich um Reiter handeln. Neuankömmlinge?

      Neugierig schärfte Aris den Blick, doch die beiden waren noch zu weit entfernt. Ein paar Meter neben ihm hatte ein anderer Lehrling gerade seine Abendmeditation im Sonnenuntergang beendet.

      „He, Navar!“, rief Aris dem dunkelgelockten jungen Mann zu, der durch die unerwartete Unterbrechung der Stille erschrocken zusammenfuhr.

      „Wusstest du, dass wir Neue bekommen?“, wollte Aris wissen.

      Navar legte die Stirn in Falten und nickte. „Ja, hab gehört, dass zwei Schüler aus Aracon kommen sollen. Eigentlich wurden sie erst im Herbst erwartet. Sie sollen aus einem der angesehensten Häuser des Westreiches stammen, deswegen wurde wohl eine Ausnahme gemacht. Ich wette, dass da wohl ein paar großzügige Zuwendungen für Eriu und den Tempel im Spiel waren, die letztendlich zu der übereilten Aufnahme geführt haben.“

      Aris kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Aber es sind keine Betten mehr frei!“

      Wieder nickte Navar und beobachtete nun ebenfalls die sich nähernden Punkte. „Also, mein Zimmer ist voll. Wir sind schon zu fünft. Die anderen Zimmer sind ebenfalls überfüllt.“

      Aris´ Augen weiteten sich sorgenvoll.

      „Scheint so, als müsstest du das Privileg eines Einzelzimmers aufgeben und zwei Beistellbetten aufstellen, Aris. Dein Zimmer ist das einzige, wo die zwei noch reinpassen!“

      „Auf gar keinen Fall!“, protestierte Aris.

      Navar kräuselte die Stirn. „Die anderen und ich fragen uns schon die ganze Zeit, warum du eigentlich ein Einzelzimmer hast. Sagtest du nicht, deine Familie züchtet Wasserbüffel in Nord-Bego?“

      Aris schob den Ärmel seines rechten Armes hoch. Die Schlangentätowierung blitzte hervor. „Noch Fragen?“, zischte er in Navars Richtung. Ehrfürchtig blickte Navar auf die Tätowierung, die im Schimmer des blutigen Abendrots wirkte, als würde sie sich bewegen.

      „Ich war