Niemals hätte ich diesen Bluteid mit Jard besiegeln dürfen, warf Kel sich vor, denn Kel war kein Mann. Nein, Kel war nicht einmal ein richtiger Junge. Ein Mädchen, das war sie. Kelestra. Und wie jede Frau, hatte auch sie der Fluch des Blutes getroffen. Der Fluch, der auf allen Frauen lag. Ein Merkmal von Schwäche. Der Grund, warum Mädchen und Frauen in dieser Welt weniger wert waren als Männer. Genau genommen hatte sie es nicht einmal verdient hier zu sein, denn sie würde niemals die Erwartungen erfüllen können, die Vardan hatte, als er Kel damals, in der Annahme, einen kampftalentierten Jungen vor sich zu haben, mit zu seiner Familie genommen hatte.
Sie war wertlos. Abschaum! Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit ans Licht kam. Heute war es nicht das erste Mal gewesen, dass die monatliche Blutung mit den verbundenen Unterleibskrämpfen sie beinahe verraten hätten. Und mehr als einmal, hatte sich das Hauspersonal über ihre nächtlichen Wanderungen in die Küche gewundert, wo sie die blutgetränkten Beweisstücke ihrer Weiblichkeit im Ofen verschwinden ließ.
Plötzlich musste sie an ihre Großmutter denken.
Nona hatte sie schon früh gewarnt, vor dem Fluch aller Frauen, und dass die Welt da draußen eine Welt der Männer war. Die Männer waren es, die die Macht besaßen und auch die Magie.
Als es ihrer Nona immer schlechter ging und ihr Ende nahte, hatte sie Kel einen Rat gegeben, dessen Beherzigung Kel letztendlich vor großem Übel bewahrte, wie ihr Jahre später klar geworden war.
„Kelestra, meine Kleine, als Waise wirst du nicht länger hier wohnen dürfen. Sie werden dich holen und dich an eines der roten Häuser verkaufen, wo jungen Mädchen wie dir widerliche Dinge angetan werden. Das darfst du niemals zulassen, hörst du. Lass niemals zu, dass diese Männer dir wehtun.“
Als zehnjährige hatte Kel nicht recht verstanden, was ihre Großmutter meinte, bis zu dem einen Tag, in ihrer Zeit als Straßenkind, als sie unfreiwillig Augenzeugin eines Vorfalles geworden war, der genau das wiedergab, was Nona ihr zu erklären versucht hatte. Sie würde nicht zulassen, dass ein Mann ihr jemals auf so brutale Weise wehtat, wie es dem armen Straßenmädchen ergangen war, das nicht so gescheit gewesen war wie Kelestra, die sich zu ihrem eigenen Schutz als Junge ausgab, wie Nona es ihr geraten hatte.
Mit ihren letzten Kräften hatte Nona ihrer Enkelin das lange honigbraune Haar raspelkurz geschoren und ihr alte Kleider ihres verstorbenen Vaters gegeben, die sie einige Jahre zuvor in weiser Voraussicht umgenäht hatte, damit sie dem schmalen Mädchen wenigstens ansatzweise passten.
Trotz des Gesetzes, welches Frauen verbot, Männerkleider zu tragen, tat Kel wie ihr geheißen. Als sie mit zwölf, kurz bevor sie zu der Familie des Präfekten kam, auch nur andeutungsweise ein Brustwachstum an ihrem Körper bemerkte, hatte sie sogleich begonnen, sich mit Leinenstreifen flach zu binden. Ihre Angst entdeckt zu werden und an ein rotes Haus verkauft zu werden, war zu übermächtig.
Das Leben eines Jungen war hart, aber doch so viel freier und sicherer, als das eines Mädchens. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was Ocai und seine Kumpane ihr zu jener Zeit angetan hätten, hätten sie geahnt, wer sich in Wirklichkeit hinter dem schmutzigem Gesicht, den kurzen Haaren und den zu weiten Hosen verbarg.
Und dann war da noch diese Sache mit der Magie. Frauen trugen keine Magie in sich. Sie konnte es sich nicht erklären, warum sie. War sie vielleicht wirklich verflucht? Immer wieder hatte sie alte Geschichten gehört, die von einer längst vergangenen Zeit erzählten, als Frauen ebenso Magie in sich trugen. Ihre magischen Kräfte sollen viel stärker gewesen sein, als die der Männer, so hieß es, doch der Fluch eines boshaften Herrschers hatte alle Magieträgerinnen ihrer Magie beraubt. Doch man munkelte, dass eines Tages die Magie der Frauen zurückkehren würde. War sie eine von ihnen? Gab es vielleicht andere Mädchen und Frauen, die ihre Magie verheimlichten und sich ebenso wie Kel versteckten vor der Strafe, die sie dafür erwartete?
Als Kel ungefähr acht Jahre alt gewesen war, waren zwei Frauen aus der Nachbarschaft mit dem Vorwurf verhaftet worden, angeblich Magie heraufbeschworen zu haben. Kel hatte die Frauen gekannt, die nur harmlose Tinkturen und Pulver für die Nachbarschaft herstellten, um kleine Unpässlichkeiten zu lindern, doch auch die Kunst des Heilens war allein den Männern vorbehalten.
Bei Kel war es anders. Sie spürte, dass sich etwas viel Mächtigeres in ihr verbarg, als ein gutes Gespür für Heilkräuter.
Anfangs hatte sie es kaum wahrgenommen, dachte an Zufälle, doch seit dem Tag, als Ocai und seine Freunde von dem Peitschensturm entstellt worden waren, glaubte sie nicht länger an Zufälle. Sie war es gewesen. Diese Erkenntnis hatte sie zu zutiefst verängstigt. Sie würde sich niemals als Magie besitzendes Mädchen zu erkennen geben können, nicht einmal bei dem freundlichen Präfekten, der sie vor dem Wachmann beschützt hatte. Sie konnte sich die Strafe, die sie erwarteten würde, lebhaft vorstellen. Es war widernatürlich. Sie war widernatürlich. Und sie war dazu verdammt, ein Leben als Mann zu führen.
Die blutverkrustete Linie in ihrer Handfläche brannte, als eine Träne von ihrer Wange hineintropfte.
Ich habe Jard entehrt, fuhr es ihr durch den Kopf. Ich bin Schuld, wenn ihm etwas passiert!
Ein Blutschwur zwischen einem Mann und einer Frau brachte großes Unheil hervor und zog einen qualvollen Tod nach sich, so hieß es. Frauen war es grundsätzlich verboten, sich geheiligten Ritualen zu unterziehen, selbst wenn sie nur unter Frauen stattfanden.
Allein der Gedanke, dass Jard und sie elendig zu Tode kämen, wie die Menschen in den alten Sagen, ließ ihr Blut in ihren Adern gefrieren.
Aber sie hatte keine Wahl gehabt. Sie musste es tun. Vielleicht war es ja etwas anderes, weil niemand wusste, dass sie gar kein echter Junge war und sie selbst sich in all den Jahren auch nie als etwas anderes gesehen hatte.
Möglicherweise würden Jard und sie vor dem grausamen Schicksal eines verbotenen Blutschwurs verschont bleiben. Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig, als die Glocke zur Abendmahlzeit sie aus ihrer Trübsal riss.
***
Als Tochter des Präfekten von Aracon standen Liva bedeutend mehr Privilegien zu, als den einfachen Bürgerstöchtern. Doch das reichte Liva nicht. Missmutig, wie so häufig, saß sie mit ihrer Familie an der reichlich gedeckten Tafel aus Olivenholz und nahm das Abendessen ein. Doch während ihr Vater, ihr älterer Bruder und ihr Ziehbruder rege Unterhaltungen führten, schwiegen sie und ihre Mutter, nickten hier und da, wenn sie etwas gefragt wurden und schauten die meiste Zeit des Abends mit niedergeschlagenen Augen auf ihre Teller. Allerdings schien auch ihr Ziehbruder, Kel, heute nicht allzu gesprächig. Zudem war er überaus blass. Nicht, dass er sonst einen kräftigeren Teint aufwies. Sie musterte für einen Augenblick den Jungen, der im selben Alter war wie sie, und der nun schon seit drei Jahren bei ihnen lebte. Kel hatte sich nicht außerordentlich verändert, bis auf sein Haar, das bei seiner Ankunft wild und verfilzt von seinem Kopf abgestanden hatte. Jetzt waren die Seitenpartien kahl geschoren und das kinnlange Deckhaar, das von goldenen Strähnen durchzogen war, zu einem Zopf am oberen Hinterkopf zusammengebunden.
Diese Kriegerfrisur stand ihm ausgezeichnet, befand Liva. Sie betonte sein hübsches, eher weiches Gesicht, mit – für einen Jungen – etwas zu großen Augen und zu langen Wimpern, auf die sie so manches Mal neidisch war. Seit damals war Kel nur mäßig gewachsen und gerade einmal eine handbreit größer als Liva, während ihr Bruder sich tagtäglich mehr zum Mann entwickelte. Er hatte sogar schon ein paar Stoppeln im Gesicht, die er rasieren musste. Jard trug sein dunkles Haar in der gleichen Art wie Kel. Allerdings war es genau – wie ihre eigenen rabenschwarzen Haare – wellig und nur schwer zu bändigen.
„Kel und ich haben heute einen Blutschwur geleistet, Vater“, sagte Jard mit vollem Mund kauend.