Sein Magen gab ein grollendes Geräusch von sich, das dem Knurren eines wütenden Wolfes nicht unähnlich war. Der Junge schob sich eine Haarsträhne aus den Augen. Unter der feinen Staubschicht wirkte das zerzauste, honigbraune Haar, das an seiner verschwitzten Stirn und den Wangen klebte, stumpf.
Es war Mittag. Die Mitsommersonne brannte ungnädig auf die stickigen Gassen der Stadt herab, während der beißende Gestank vom Hafen erbarmungslos in seine Nase kroch und einen Würgreiz auslöste. Er packte den Kragen seines zerschlissenen Leinenhemdes und zog den groben Stoff schützend über Mund und Nase. Nur weg von diesem Ort. Er hastete um eine Hausecke und folgte dem Weg in Richtung Stadtzentrum. In einiger Entfernung konnte er bereits den großen Marktplatz erkennen. Die grellbunten Planen der unzähligen Marktstände stachen ihm sofort ins Auge und er beobachtete einen Augenblick lang die Menschenscharen, die sich in der flimmernden Hitze eilig darunter herschlängelten.
Der Junge ließ sich unter einer von hunderten Spatzen bevölkerten, Schatten spendenden Zelkove auf dem weichen Untergrund nieder. Das fröhliche Zwitschern in der Baumkrone hoch über seinem Kopf wirkte auf eine unerklärbare Art tröstlich und zum ersten Mal seit vielen Tagen fiel diese innere Anspannung, die ihn stets begleitete, von ihm ab.
Das Dampfbrötchen in seiner Hand war immer noch angenehm warm. Er sog den Duft mit geschlossenen Augen tief in seine Lunge ein und wollte gerade den ersten Bissen nehmen, als ihn ein wütendes Grölen fast zu Tode erschreckte. Er riss die Augen auf, da traf ihn augenblicklich ein heftiger Schlag am Kopf. Im selben Atemzug flog seine Mahlzeit in hohem Bogen durch die Luft und landete im Dreck. Mit geweiteten Augen starrte der Junge auf das Brötchen, das von Schmutz und Staub bedeckt vor seinen Füßen lag, dann auf den Übeltäter, der es ihm auf brutalste Weise aus der Hand geschlagen und dabei seine rechte Gesichtshälfte gestreift hatte. Tränen brannten in seinen Augen, doch der, in seiner Brust anschwellende Zorn über den Angriff, der den Verlust seiner langersehnten Mahlzeit bedeutete, überlagerte den pochenden Schmerz an seinem Wangenknochen.
„Na wen haben wir denn da. Ist das nicht Kel – der kleine Schwächling?“ Ein großer Junge mit strähnigen, schwarzen Haaren und massigem Körper beugte sich bedrohlich über ihn. Eine tiefe dunkle Narbe zierte seine linke Schläfe. Doch vor allem an seinen auffallenden tiefschwarzen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel übergangslos miteinander verbunden waren, erkannte Kel den Jungen sofort wieder. Er war einer der Hilfsarbeiter, die ihn während der Arbeit bei den Schiffen ständig drangsaliert hatten. Er war mindestens drei Jahre älter als Kel und wies schon eine ordentliche Gesichtsbehaarung auf. Seine Zähne waren braun und sein Atem roch sauer. Angeekelt wich Kel ein Stück zurück. Die zerklüftete Rinde des Baumes an dem er lehnte, bohrte sich in sein Fleisch.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich zwei weitere Jungen näherten was seinen Herzschlag panisch in die Höhe trieb.
„Was willst du, Ocai?“, fragte er und versuchte seine zitternde Stimme unter Kontrolle zu bringen.
„Na, was denkst du wohl, Kel?“
Die anderen Jungen hatten ihn mittlerweile umzingelt. Er saß in der Falle.
Ocai zog seine mandelförmigen Augen zu Schlitzen zusammen. „Her mit deinem Lohn!“, grunzte er. „Wir haben uns den Rücken krumm gebuckelt und mindestens das Doppelte an Säcken und Kisten an Land geschleppt. Während du dich stundenlang an einer einzigen Kiste zuschaffen gemacht hast. Nächstes Mal solltest du dir besser Weiberarbeit suchen.“ Er lachte grimmig. Einer der anderen stemmte seine Fäuste in die Hüften und bäumte sich vor ihm auf. „Sozusagen haben wir deine Arbeit erledigt, daher steht uns auch der Lohn dafür zu. Also rück gefälligst das Geld raus!“
Kels Blick wanderte vorsichtig zu Boden, wo das gefüllte Brötchen mittlerweile unter den Füßen der Jungen platt getrampelt und gänzlich ungenießbar war.
Ocai fletschte seine fauligen Zähne. „Sag bloß, du hast den ganzen Lohn für dieses Entenfutter verschwendet? Da hat der Wüstenmann dich aber gehörig über den Tisch gezogen.“ Wütend zermalmte Ocai ein weiteres Stück des Brötchens unter seiner Schuhsohle, an der der zerbröselte Ziegenkäse kleben blieb.
Kel schluckte schwer. Sein Hals war staubtrocken. Seit wann hatte er eigentlich nichts mehr getrunken?
„Der Hafenmeister hat mir nur einen Targesh und zwanzig Cuan gezahlt. Das Brötchen kostete sogar einen Targesh und zweiunddreißig Cuan, doch der Mann hat mir den Rest erlassen.“
„So, hat er das?“ knurrte Ocai. „Da hast du aber Glück gehabt, an einen so freundlichen Mann geraten zu sein. Nur Pech für dich, dass wir nicht so nett sind wie der Turbanträger!“ Er packte Kel mit einer Hand an den lockeren Schnüren seines Hemdes und mit der anderen umfasste er seinen schlanken Hals. Kels von Natur aus blasse Haut wurde kalkweiß. Die zarte Haut unter seinen Augen begann bläulich violett zu schimmern. Lähmende Angst schnürte ihm zusätzlich die Kehle zu. Er rang nach Luft und starrte in die finsteren Mienen seiner drei Angreifer, die allmählich vor seinen Augen verschwommen.
Nein, du wirst nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt, schien ihm eine seltsam vertraute Stimme in seinem Kopf zuzuflüstern. Es war nicht die Stimme seiner verstorbenen Großmutter. Diese Stimme klang wesentlich jünger. Vielleicht war es die Stimme seiner Mutter. Er wusste es nicht. Seine Mutter war vor zwölf Jahren gestorben. Nur wenige Sekunden nachdem er den ersten Atemzug seines Lebens genommen hatte.
Schwindel erfasste ihn. Er presste die Augen zusammen.
Seine Gedanken begannen wie Quellwolken am Himmel auseinander zu driften. Nein- bleib stark!
Plötzlich spürte Kel etwas, das sich wie ein Windstoß anfühlte. Windstoß...? Wohl eher ein Taifun, der an ihnen vorbei peitschte. Panisch riss Kel die Augen auf und beobachtete voller Erstaunen, wie Ocai, der eben noch mit seinen riesigen Händen versucht hatte, seine Kehle zuzudrücken, nun von dem Sturm meterweit davon geschleudert wurde. Eine weitere gewaltige Böe riss die beiden anderen Jungen davon. Rückwärts purzelten alle drei zu Boden und blieben scheinbar erstarrt vor Schreck liegen. Das Geäst über Kel zitterte und knackte, Blätter wirbelten wie wild herum und wurden davongetragen, bevor sie in einiger Entfernung sanft zu Boden segelten. Einen Wimpernschlag später war der rätselhafte Sturm ebenso schnell vorbei, wie er erschienen war. Kel rappelte sich auf und flüchtete so schnell er konnte. Im Vorbeirennen warf er einen neugierigen Blick auf seine am Boden liegenden Angreifer. Erschrocken wich er zurück, als er in allen drei Gesichtern rätselhafte rote Striemen entdeckte, einige waren blutig, als hätte ihnen jemand mit einer mehrsträngigen Peitsche ins Gesicht geschlagen. Allmählich kamen Ocai und seine Kumpane zu Bewusstsein und begannen zu stöhnen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, hastete Kel davon, erfüllt von der Furcht, der mysteriöse Sekundensturm wolle auch ihn noch einholen.
***
Hungrig und ziellos taumelte Kel durch die Gassen der Hauptstadt des Westreichs. Dieser exklusive Teil der Stadt, mit seiner feinen Gesellschaft war ihm unbekannt. Er konnte sich weder erinnern, wie er hierher gelangt war, noch was er hier eigentlich wollte. Hier fiel er jedenfalls auf, wie ein geblümtes Kamel, zwischen all den kostspielig gekleideten Menschen, die sich mit bunten –aus dem entfernten Reich der aufgehenden Sonne – importierten Seidenfächern Luft zuwedelten und den tadellos uniformierten, privilegierten Schuljungen, die die angesehene Akademie von Aracon besuchten. An ihren unterschiedlich gefärbten Gürtelschärpen konnte Kel ihre Graduierungen erkennen. Auch sein Vater hatte oft eine Uniform getragen, als er noch lebte und als Söldner im Krieg gekämpft hatte, bevor er eines Tages nicht mehr heimkehrte. Da war Kel sechs Jahre alt gewesen. Die grüne Söldnerschärpe seines Vaters war eine der wenigen Habseligkeiten, die Kel noch besaß. Die meisten Dinge aus seiner Vergangenheit waren ihm in den Jahren auf der Straße gestohlen oder vom Hochwasser zerstört worden.
Seit Nona, seine geliebte Großmutter, vor fast zwei Jahren gestorben war, lebte Kel ohne ein Dach über dem Kopf im schäbigsten Viertel Aracons. Dort herrschte das Gesetz der Straße und die meisten Bewohner hausten in windschiefen Hütten und ärmlichen Baracken.
Er suchte sich mal hier, mal dort Unterschlupf vor