Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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grinste die Frau den verdutzten alten Mann an, der den Bettler grade eben erst vor ihr verteidigt und ihm eine Wasserflasche gegeben hatte. Das war genau die Wendung, die sie gebraucht hatte, um nicht vor ihm und ihrer kleinen Tochter dumm dazustehen. Die Kleine versuchte grade, eine auf dem Boden liegende, bunte Kaugummiverpackung aufzuheben, um nachzusehen, ob sich darin nicht doch noch ein allerletztes Kaugummi befand. Sie strich ihre nussbraunen Haare aus ihrem langsam faltig werdenden Gesicht und zog ihr kleines Mädchen von der Kaugummipackung weg.

      „Ich habe außerdem gehört, dass geistige Verwirrung eine Folge von Aids sein kann. An Ihrer Stelle würde ich mich erstmal gründlich untersuchen lassen. Nicht, dass Sie neben seinen Flöhen und Läusen, die sowieso schon auf Sie übergesprungen sind, auch noch das Pech haben, in Kürze Ihr Testament aufsetzen zu müssen.“

      Dann setzte sie sich zufrieden ihre Sonnenbrille auf und entfernte sich mitsamt ihrer Tochter von den beiden Männern, an die sie sich heute Abend schon nicht mehr erinnern würde.

      6

      Der linke Blinker des Mercury Cougar leuchtete auf. David bog in die Einfahrt des trüben Einfamilienhauses ein und parkte sein – ehemals das seines Vaters – Auto vor der geschlossenen Garage. Bevor er ausstieg, warf er einen flüchtigen Blick durch das Fenster des Wohnzimmers. Es war zur Routine geworden, dass er, aus reiner Vorsorge bevor er das Haus betrat, das Wohnzimmer von außen inspizierte. Er war nicht erpicht darauf, seine Mutter ein zweites Mal bei etwas Unschicklichem zu hören, geschweige denn zu sehen. Vielleicht konnte man in seinem Fall ebenfalls von Numbing als Folge ihrer damaligen Seitensprünge sprechen. Das wäre jedoch zu weitgehend, schließlich fühlte er keinen besonderen Schmerz bei der Trennung seiner Eltern. Trae hatte ihn am Abend, als sie sich kennengelernt hatten, gefragt, wie das wäre, von seinen Eltern erzogen zu werden. Diese Frage lag ihm deshalb so auf der Zunge, da er ein Waisenkind war. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt am Kindbettfieber. Die Sterberate würde bei ungefähr 0,016 % liegen, hatten die Ärzte hinter vorgehaltener Hand gemurmelt und so entschieden, dass es nicht nötig sei, Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu behandeln. Offiziell hatten sie nur gesagt, dass sie gesundheitlich in bester Ordnung wäre und es lediglich eine psychosomatische Reaktion auf den Stress sei. Einen Tag später starb sie. Trotz ihres Studiums und ihrer Erfahrung hatten sie den groben Fehler begangen, die Zahlen so zu legen, dass sie unbehandelte Fälle beschreiben würden. Jedoch starben 16 von 100.000 Personen, wenn sie behandelt wurden. Wieso Traes Mutter nicht behandelt wurde, wurde nie an eine höhere Stelle weitergegeben. Man beschrieb es als „nicht heilbaren, infektiösen Krankheitsausbruch“. Wer sein Vater war, konnte nicht ermittelt werden. Es gab keine namentliche Erwähnung oder irgendeinen Hinweis darauf, wer er sein könnte. Aus diesem Grund wollte Trae natürlich wissen, wie es gewesen wäre, wenn er eine Familie gehabt hätte. David – natürlich im pubertierenden Alter – hatte ihm gesagt, es sei wie Cholera. Man würde heftig darunter leiden, aber man hat nur eine zwei prozentige Chance, dabei draufzugehen. Traes Frage war für ihn wie der berühmt berüchtigte Finger in der Wunde gewesen. Besonders nachdem er seine Mutter bei einer Nummer mit einem gewissen Ray erwischt hatte, der zum einen zwar schicke Anzüge trug, aber zum anderen bei weitem nicht so viel verdiente, da er, wenn überhaupt, ein grade mal mittelmäßiger Immobilienmakler war. Also legte er noch einen drauf und erzählte ihm, dass man außerdem mit Schlägen, Bestrafung und im schlimmsten Fall sogar mit Misshandlung rechnen müsse. Dass er in seinem ganzen Leben noch nie mit Misshandlung in Kontakt gekommen war, verschwieg er aber. Es ging ihm nur darum, seinen Eltern eines auszuwischen. Wenn man älter wird, wäre es dann eher wie die Pest. Die Qualen würden schlimmer werden als vorher und die Chance, dass du draufgehst steigt, hatte David gemeint. Wieso, hatte Trae ihn gefragt. Weil sie denken, dass du mehr aushältst und sie dann weniger vor ihren Taten zurückschrecken, war seine Antwort gewesen.

      Da das Wohnzimmer frei von Liebhabern und seiner leicht verführbaren Mutter war, nahm er den Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus dem Auto aus. Die Tür schlug er absichtlich mit großer Wucht zu, da er wusste, dass es seine Mutter besonders ärgerte. Während er den Haustürschlüssel aus seiner Hosentasche kramte, winkte er einem kleinen Mädchen zu, das auf einem Dreirad auf dem Bürgersteig fuhr.

      „David!“, quiekte sie vergnügt und stieg so schnell, wie ihre kleinen Beine es zuließen, von ihrem Dreirad ab und lief mit offenen Armen auf ihn zu. Ihre blonden Haare waren zu zwei Zöpfen zusammengebunden, die beim Laufen links und rechts auf- und abhüpften.

      „Zoe, meine Kleine“, antwortete er und strahlte sie übers ganze Gesicht an. Endlich jemand, der sich ihm gegenüber nicht merkwürdig verhielt oder wirkte, als ob er was zu Starkes geraucht hätte, auch wenn das bei Trae genau der Fall war. Wenigstens würde sie den Tag nicht schlimmer machen, sondern den Vorhang, der sich – metaphorisch gesehen – vor seinen Gefühlen befand, etwas aufziehen und ihm so etwas Licht in der Dunkelheit schenken. Mit einem Lachen auf den Lippen sprang sie ihm in die weit geöffneten Arme, so dass er seinen Rucksack fallen ließ, als er sie auf den Arm nahm. Sie klammerte sich an ihm fest und drückte ihre Wange fest gegen seine.

      „Du hast mir so gefehlt“, erzählte sie ihm mit voller Ernsthaftigkeit.

      „Du mir auch, Zoe“, erwiderte er und drückte sie noch fester an sich.

      „Du drückst mich ja so platt wie ein Pfannkuchen“, witzelte David und lockerte ein wenig seine Arme, die er um ihren kleinen schmächtigen Oberkörper geschlungen hatte.

      „Ich liebe Pfannkuchen!“, quietschte sie vergnügt und begann auf seinem Arm zu hoppeln.

      „Ist das so?“ Er setzte einen scherzenden verwunderten Blick auf und musterte sie von oben bis unten. Sie nickte heftig mit dem Kopf. Ihr Lächeln offenbarte ihre Zahnlücke, an deren Stelle sich eigentlich ihr rechter unterer Schneidezahn befinden sollte. Anscheinend hatte sie vor kurzem ihren Milchzahn verloren und erwartete dort nun bald ihren dauerhaft bleibenden „Erwachsenenzahn“, wie ihre Eltern es nannten.

      „Was hältst du denn davon, wenn wir reingehen und welche machen?“

      „Ja! Mit Erdbeeren und ganz viel Ahornsirup!“, schrie sie glücklich. David musste lachen. Am liebsten würde er von zuhause ausziehen und sich eine Wohnung suchen, wo er sie selbst aufziehen könnte. Würde es sie nicht geben, wäre er schon längst von diesem Ort hier verschwunden. Doch sie hielt ihn hier. Ihr Vater war ein Trinker und ihre Mutter nur selten daheim. Er fühlte sich verantwortlich für sie, denn er war sich sicher, dass sie das hier ohne ihn nicht durchstehen würde. Und er ohne sie auch nicht.

      „Zoe“, ermahnte er sie und sah sie erschrocken an.

      „Bitte David! Bitte. Dieses eine Mal.“, flehte sie ihn mit großen Augen an.

      „Na gut. Aber nur dieses eine Mal! Dann darfst du das aber keinem erzählen“, flüsterte er ihr – immer noch lächelnd - geheimnistuerisch zu.

      „Juhu“, jauchzte sie und warf sich nach vorne, um ihn wieder zu umarmen. Sie verharrten einen kurzen Moment so und genossen diesen schönen Augenblick der Ruhe. Dann setzte er sie langsam ab und streichelte über ihre Wange.

      „Pass auf“, sagte er und beugte sich zu ihr herunter. Sie nickte mit dem Kopf und zog ihr violett-pink gestreiftes T-Shirt, an dessen Kragen sich ein kleines von Motten gefressenes Loch befand, wieder grade.

      „Du fährst jetzt nach Hause und sagst deiner Mom, dass wir zusammen Pfannkuchen machen und uns danach noch einen Film ansehen werden. Um sechs bringe ich dich wieder nach Hause.“

      „Sieben!“, erwiderte sie und stampfte mit dem Fuß empört auf dem Boden auf.

      „Halb sieben und ein Glas Kool Aid“, bot er ihr an, „Einverstanden?“ Sie war einverstanden und nickte so stark, dass David kurzzeitig Sorge hatte, dass ihr kleiner blasser Kopf mit ihren wunderschön dunkelbraunen Augen von ihrem dünnen Hals kullern würde.

      „Schön. Na los. Wenn du dich nicht beeilst, fange ich ohne dich an“, drohte er ihr im Spaß.

      „Das ist gemein“, antwortete sie und schaute ihn böse an.