Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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tun soll. Mir geht es nicht anders als anderen, auch ich schaffe es nicht immer, mein Bestes zu geben, und oftmals ist das Schreiben auch ein hartes Stück Arbeit. Ich denke alle, die bereits selbst einmal versucht haben, eine Geschichte zu schreiben, können mir zustimmen. Es ist nicht immer leicht, sich hinzusetzen und sich etwas Neues auszudenken, von dem man überzeugt ist, dass es nichts als die reine Wahrheit ist. Besonders nicht, wenn es zwei Uhr morgens ist und man bereits vier Tassen Kaffee intus hat, von denen keine einzige im Kopf ankommt. Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung, wenn ich Ihnen sage, dass es Vorteile hat, seine eigene Kaffeemaschine im Zimmer zu besitzen.

      Aber zurück zum eigentlichen Thema. Das Schöne an einer Lüge ist, dass man sie sich aussuchen kann, wohingegen das Schreckliche an der Wahrheit ist, dass man sie zu akzeptieren hat wie sie ist. Zwar sollen Lügen klingen, als wären sie die Wahrheit, aber das sind sie nicht. Wenn man sich eine Lüge ausdenkt, fällt es einem oft schwer abzuwägen, wieviel man erfinden kann, um sie noch glaubhaft klingen zu lassen. Doch jede Lüge hat einen wahren Kern und einen Grund, um erzählt zu werden. Goethe sagte einmal, dass man etwas zu sagen haben muss, wenn man reden will. Und genau das will ich. Allerdings weiß ich nicht so recht, wieviel ich erzählen kann. Ich weiß es genauso wenig, wie ich weiß, was ich alles erzählen soll. Es gibt so vieles, das in meinem Kopf herumschwirrt und um jeden Preis gesagt werden muss. Doch am besten fange ich dort an, wo Lüge und Wahrheit beginnt: Am Anfang. Denn dort nimmt jedes Übel seinen Lauf.

      1.Kapitel

       Man kann die Erfahrung nicht früh genug machen,

       wie entbehrlich man in der Welt ist.

       Johann Wolfgang von Goethe

      1

      Das Sonnenlicht, welches durch die trüben, schmutzigen Fenster des Klassenraums strahlte, blendete David. Trotz des Gewitters letzte Nacht war es schwüler, als die meisten es aushalten konnten. Davids Sitznachbar Lance, ein rundlicher Junge mit Sommersprossen und orangenen Haaren, gehörte ebenfalls dazu. Sein überdurchschnittlich hoher Fluss an Schweiß hatte sein eigentlich hellgrünes T-Shirt bereits in ein dunkles Grün getaucht. Auch Mrs. Prenton war die Hitze anzusehen. Ihre strahlend weiße Stirn war ein einziges Meer aus Schweißperlen, die sie im Viertelstundentakt mit ihrem weiß-grün karierten Taschentuch abtupfte.

      „Terry Attlee Baron“, sagte sie mit klarer, lauter Stimme. Ein gebräunter Junge in der zweiten Reihe setzte seine Brille auf und erhob sich beinahe anmutig. Dann strich er sein Hemd mit der Hand glatt und ging auf sie zu. Lächelnd empfang sie ihn, schüttelte ihm die Hand und überreichte ihm ein Blatt Papier.

      „Überragend, wie immer, Terry“, lobte sie ihn und strahlte noch mehr, als er sein Zeugnis mit einer halben Verbeugung entgegennahm.

      „Aus dir wird mal etwas ganz Besonderes.“

      „Ein besonders großer Arschkriecher“, murmelte Tales aus der linken Ecke der dritten und letzten Reihe. Warren und Henry begannen neben ihm wie aufs Stichwort zu grunzen, was vermutlich eher einem Lachen ähnlich sein sollte.

      „Crane!“, schnauzte Mrs. Prenton ihn an und unterbrach ihr breites Lächeln kurzzeitig. Dann wandte sie sich erneut, übers ganze Gesicht strahlend, Terry zu. David konnte Tales und sein Anhängsel nicht leiden. Tales war ein Macho, wie er im Bilderbuche steht. Seine gesamte Erscheinung schrie geradezu nach dieser Bezeichnung. Er konnte sich weder durch einen sonderlichen hohen IQ, noch durch Wortgewandtheit oder überdurchschnittliche Empathie auszeichnen. Alles, was er konnte, war Gewichte stemmen und dumme Sprüche wie am Fließband zu liefern. Aber trotzdem hatte er es jedes Jahr erneut geschafft, eine Klassenstufe nach oben versetzt zu werden. Was nach außen wie ein Kunststück wirkte, war in Wirklichkeit nichts anderes als das Ergebnis seiner Flirtkünste mit den jungen Lehrerinnen. Wenn man den Gerüchten glauben mochte, dann war es des Öfteren auch weit mehr als bloß das. Seine Versetzung war also der ungewöhnlich hohen Quote an jungen Lehrerinnen und deren verzweifelter Wunsch begehrt zu werden geschuldet.

      Mrs. Prenton beendete den Dialog mit Terry und setzte wieder ihren alltäglichen „Ich-hasse-mein-Leben-und-ihr-seid-der-Grund-dafür“ Blick auf.

      „Tales Crane“, rief sie mit minderer Begeisterung auf. Keine Reaktion. Tales war so sehr damit beschäftigt, mit Warren über die NBA-Playoffs zu reden, dass er sie gar nicht gehört hatte. David rollte genervt mit den Augen. Terry Baron hatte mittlerweile seinen Platz wieder erreicht und setzte sich gemächlich auf seinen knarzenden Holzstuhl. Seine Sitznachbarin, Mary, versuchte einen flüchtigen Blick auf seine Noten erhaschen zu können, doch er war schneller und ließ den Zettel eilig in seiner Mappe zu verschwinden. Beide führten jährlich ihr inoffizielles Duell um den nicht existierenden Titel „Bester Schüler/Beste Schülerin.“ Beziehungsweise sie führte es. Ihr Zeugnis war besser als das von jedem Einzelnen aus ihrer Klasse, und sie wollte sichergehen, dass es auch besser war als seins. Er jedoch hatte keinerlei Interesse an derartigen Vergleichen oder Ranglisten. Und um eben diesen aus dem Weg zu gehen, zeigte er es niemandem. Für ihn zählte nur seine eigene Leistung und mehr nicht. Hochnäsiges Bürschchen, dachte sich Mary. Sie konnte es nicht ausstehen, dass dieses kleine Kind von 13 Jahren möglicherweise bessere Noten als sie haben könnte. Mary war schlau, aber Terry war genial. Was genau er auf dieser Schule zu suchen hatte, konnte er sich jedoch auch nicht beantworten. Er selbst wäre viel lieber auf einer renommierten Schule für hochbegabte Kinder gelandet, denn dort gehörte er auch hin. Zu den Hochbegabten. Anders als Mary. Auch wenn sie das selbst natürlich ganz anders sah.

      „Tales! Komm sofort her! Ich werde keinen Finger krumm tun, um dir dein Zeugnis zu geben!“, zeterte Mrs. Prenton und fuchtelte mit seinem Zeugnis in der Luft herum. Auch das interessierte ihn herzlich wenig. David genauso. Er hatte andere Probleme. Weitaus größere Probleme. Die Direktorin hatte ihn gestern zu einer Unterhaltung in ihr Büro eingeladen, zu der er in weniger als einer Stunde erscheinen musste. Angeblich musste sie dringend mit ihm über sein fehlerhaftes Verhalten reden. Das Seltsame daran war, dass er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen. Sein Sozial- und Arbeitsverhalten entsprach den Erwartungen in vollem Umfang – endlich etwas in dem Terry dank seiner Arroganz nicht besser sein konnte – und er war nie sonderlich negativ aufgefallen. Die einzig logische Erklärung war also, dass, wie so oft, seine Mutter dahintersteckte. Sie nutzte die Position ihrer Cousine gerne das ein ums andere Mal aus, um ihren Willen bei David durchzusetzen, da er auf sie nicht mehr hörte, seit er sie beim Fremdgehen mit einem Immobilienmakler auf frischer Tat ertappt hatte. Ihr Verhältnis war noch nie sehr eng oder vertraut gewesen. Beide konnten auch ohne den anderen gut zurechtkommen und konnten lediglich durch ihre Verwandtschaft als echte Familie bezeichnet werden. Müde legte er den Kopf auf seine Arme, die er auf dem Tisch verschränkt hatte. Es war nicht nötig, dass er konzentriert aufpasste, ob sein Name genannt werden würde. „Williams“ stand auf der Klassenliste fast ganz unten. Nur „Young“, ein kleiner, schmaler, schwarzer Junge und „Zimmermann“, ein ursprünglich aus Deutschland stammender, athletischer Junge mit einem gewaltigen Ego, befanden sich noch unter ihm in der Klassenliste. David hatte also noch ausreichend Zeit bis Mrs. Prenton bei ihm ankommen würde, wo sie zudem grade ohnehin noch ihren Monolog darüber hielt, dass sie früh anfangen sollten, anderen gegenüber Respekt zu zollen. Dies bezog sich in diesem Fall besonders auf das Verhalten von Tales, der aufgehört hatte, sich mit Warren zu unterhalten und stattdessen das Mädchen, das vor ihm saß, umgarnte.

      Das laute Knistern einer Plastikflasche riss David aus seinen Tagträumen. Es war Lance, der neben ihm einen großen Schluck Saft in sich goss, wobei ein großer Teil auf seinem ohnehin schon nassen T-Shirt landete. Davids Blick schweifte in Richtung der weißen, runden Uhr, die über der dunkelgrünen Klassentür hing und leise, aber dennoch hörbar, tickte. Viertel vor eins. Er hatte es tatsächlich geschafft eine halbe Stunde lang Mrs. Prenton, Tales und den Rest der sich im Raum befindenden Jugendlichen, die ihm alle gewaltig auf die Nerven gingen, auszublenden.

      „David Williams“, sagte Mrs. Prenton erschöpft von der Hitze und ihrer Moralpredigt, die sie kurz zuvor hoffnungslos beendet hatte. Er war also grade noch rechtzeitig aus seinen Gedanken gerissen