Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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wegen deiner Mutter…“

      Doch er hörte sie schon längst nicht mehr. David hatte bereits den Raum verlassen und die Tür mit so einer Wucht zugeschmettert, dass der veraltete Wandkalender aus dem Jahre 2017 – das Jahr in dem das Übel seinen Lauf nahm und Ms. Robinson zur Direktorin ernannt wurde - zu Boden fiel.

      Er befand sich erneut im traurig aussehenden Flur der Schule. David holte seine Kopfhörer aus seiner linken Hosentasche und steckte sich einen davon in sein Ohr. Dass er diesen wenige Augenblicke später wieder herausnehmen musste, da dieser außer einem Rauschen keinen Ton von sich gab, störte ihn nicht. Es fühlte sich gut an, der völlig verkaterten Direktorin Paroli geboten zu haben und nun eine lange Pause von alle dem vor sich zu haben.

      „David“, rief die Direktorin ihm aufgeregt hinterher und ließ die Tür hinter sich offen. Alles was er ihr mitzuteilen hatte, war sein Mittelfinger, den er ihr ausgestreckt nach hinten hielt.

      „David Williams! Du wirst mir jetzt zuhören!“, rief sie ihm empört nach. Sie ließ sich durch einfachste Gesten schnell auf die Palme bringen, kam aber ebenso schnell wieder herunter. Das wusste er und nutzte es zu seiner Belustigung aus. Ihre hochhackigen Schuhe klackerten besonders laut auf den Fliesen, als sie ihm hinterherlief.

      „Ich will dich doch nur warnen! Bitte, David, hör mir zu!“

      Sie hatte ihre Schritte beschleunigt und rannte ihm jetzt beinahe schon hinterher. Doch er ließ sich nicht beirren und ging weiter schnurstracks den Flur in Richtung Ausgang entlang.

      „David!“, schrie sie.

      „David!“

      Sie klang inzwischen gar nicht mehr wütend, sondern ängstlich.

      „Sag meiner Mom, dass sie mit mir selber reden soll, wenn sie etwas will!“, entgegnete er ihr und stürmte aus der Vordertür. Mit seinen 1,83m lag er knapp 6cm über dem amerikanischen Durchschnitt, was ihm bei der Flucht vor Ms. Robinson sehr gelegen kam, da sie mit ihrer Körpergröße von lediglich 1,66m deutlich kürzere Beine als er hatte.

      Etwa eine Minute, nachdem David das Gebäude bereits verlassen hatte, verließ auch sie das Gebäude. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Der Junge hat keine Ahnung, was ihn erwartet, wenn er zuhause ankommt, dachte sie und schrie verzweifelt ein weiteres Mal seinen Namen. Ein silberner Mercury Cougar im New-Edge-Design fuhr vor dem Eingang vor und bremste mit quietschenden Reifen. Das Fenster wurde heruntergelassen, und David streckte seinen Kopf heraus.

      „Halten Sie sich endlich aus meinem Leben raus!“, brüllte er ihr zu, dann beschleunigte er und verschwand aus den Augen der Direktorin. Das Letzte, was sie von ihm hörte, war das Quietschen seiner Reifen, als er Mr. Kennington ausweichen musste, der kurz zuvor von Trae eine neue Lieferung Crack in Empfang genommen hatte. Ms. Robinson setzte sich erschöpft auf die Treppenstufe vor den Eingang ihrer Schule.

      „Verdammt! Scheiße!“, ließ sie ihren Emotionen freien Lauf.

      Sie verweilte einen Moment, dann sprang sie wie vom Blitz getroffen auf und rannte zurück ins Gebäude. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen, um auf dem Weg zum nächstbesten Telefon keine Zeit zu verlieren. Das Erste, das sie fand, hing über einem Feuerlöscher und war eigentlich für Notrufe reserviert. Doch bevor sie nach dem Hörer greifen konnte, begann es von selbst zu klingeln. Das Klingeln des Telefons war schrill und klang unnatürlich. Sie zitterte. Etwas in ihr wusste, dass die Person am anderen Ende – wenn es denn eine war – ihr nicht wohlgesonnen war. Kalter Schweiß lief ihre Stirn hinunter und kühlte ihren erhitzten, roten Kopf. Trotz der hohen Temperaturen fror sie am ganzen Körper. Ihre Beine, die aus ihrem sommerlichen Rock herausschauten, waren mit einer Gänsehaut überzogen. Das Klingeln wurde lauter. Jetzt klang es beinahe bedrohlich. Alles in ihr riet ihr davon ab, den Hörer abzunehmen. Doch da war diese Neugier in ihr. Diese verdammte, elende Neugier, die sie einfach nicht losließ. Sie hatte ihr noch nie etwas Gutes gebracht. Schon damals nicht, wo sie es sich für eine Flasche Wein von jedem Jungen hatte besorgen lassen. Ihre Neugier sorgte dafür, dass sie den meisten erlaubte, es ohne Kondom zu tun. Und ehe sie sich versah, war es geschehen. Sie hatte sich infiziert. HIV. Wegen ihrer elenden Neugier hatte sie sich mit HIV infiziert. Und jetzt würde ihre Neugier wieder siegen, weil es einfach in ihrer Natur lag. Weil es in der Natur eines jeden Menschen lag, seine Neugier auszureizen. Egal wie oft sie uns schon niedergemacht oder geschadet hatte. Sie hob ihren rechten Arm, um ihn nach dem Telefon auszustrecken, zog ihn jedoch sofort wieder zurück.

       Vielleicht hört es auf. Oh bitte lieber Gott mach, dass es aufhört.

      Ihre Augen waren fest fixiert auf den Hörer, so als würde er sie jede Sekunde angreifen können. Sie machte einen Schritt in Richtung ihrer offenen Bürotür. Das Telefon klingelte energischer und hüpfte fast aus seiner Halterung heraus. Mit weit aufgerissenen Augen, die immer noch das Telefon anstarrten, lief sie zu ihrer offenen Tür, doch als sie kurz davor war, sie zu erreichen, fiel sie mit einem lauten Klick ins Schloss und verriegelte sich selbst. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt und ließ keinen Laut zu. Der Hörer hüpfte in seiner Halterung auf und ab. Langsam bewegte sie sich wieder auf ihn zu. Erneut streckte sie die Hand nach ihm aus. Dieses Mal zog sie sie nicht zurück und nahm den Hörer ab. Sie atmete einmal tief durch, schloss die Augen und zählte innerlich bis zehn. Fast wie in Zeitlupe führte sie den weißen Plastikhörer zu ihrem Ohr. Es gab kein Zurück mehr.

      „Hallo“, hauchte sie ängstlich in den Hörer, bevor sie für immer verstummte.

      4

      Du kannst meinen Wagen haben, hatte sein Vater gesagt und ihm den Schlüssel des silbernen Mercury Cougar in die Hand gedrückt, bevor er nach Irland ging. Das Auto stammte aus dem Jahr 2001 und somit aus der 9. Generation der Automobilserie. Eine große Kratzspur prangte an der Fahrerseite und zog sich von der Fahrertür bis zur Tür der Rückbank durch. Sein Vater hatte sie noch am selben Tag, an dem er das Auto gekauft hatte, bei einem Unfall erhalten. Die alte, verwitwete Nachbarsfrau, Mrs. Dalton, hatte kurz zuvor ihre Tochter, die an Speiseröhrenkrebs litt, verloren und war des Lebens überdrüssig geworden. Deswegen stellte sie sich an ausgerechnet dem Tag auf die Straße, an dem Paul Williams mit seinem damals noch kleinen Sohn David vom Autokauf zurückkam und grade spaßeshalber etwas auf die Tube drückte, um seinen Kleinen zum Lachen zu bringen. Er war vom ersten Tag an vernarrt in das Lachen, das ihn als Vater noch glücklicher machte als ohnehin schon. Doch seit diesem Tag jagte es ihm nur mehr Angst ein, als dass es ihm Freude bereitet hatte. So wie, als wenn man einmal in einen saftigen Apfel gebissen, in dem sich ein Wurm befunden hatte. Von dort an würde man sie schlichtweg nicht mehr mögen, sondern verschmähen. Verschmähen. Ein passendes Wort für das, was Davids Vater von jenem Tag an, als er die alte depressiv gewordene Mrs. Dalton überfahren hatte, mit David tat, wenn er lächelte.

      Dieses Ereignis prägte seinen Vater so sehr, dass er psychisch krank wurde. „Sie haben eine posttraumatische Belastungsstörung, Paul“, hatte ihm der Arzt damals mitgeteilt und ihm zu einem geeigneten psychotherapeutischen Verfahren geraten. Welches das war, hatte David jedoch vergessen. „Besonders wichtig ist jetzt für Sie, dass Sie sich von Ihrer Familie und Ihren Freunden helfen lassen und sich nicht von ihnen abkapseln“, meinte sein Arzt Dr. Goodwin. Einige Jahre ging das auch gut und er konnte seine psychischen Probleme, die ihm der Unfall bereitet hatte, mit ausreichend Unterstützung, sowohl von seiner Familie als auch von seinem neuen besten Freund, Jack Daniel’s, gut bewältigen. Doch nachdem ihm der einfache Alkoholkonsum zu therapeutischen Zwecken – so redete er es sich jedenfalls ein – nicht mehr genügte, erweiterte er seinen Freundeskreis um namhafte Marken wie Johnnie Walker, Jim Beam, Buffalo Trace und gelegentlich stieß auch sein Bekannter Budweiser zur munteren Runde hinzu. Es fing morgens mit einem Glas Sekt an, welches er wenigstens noch mit einem Schuss Orangensaft mischte. Mittags trank er dann statt seiner üblichen Zitronenlimonade zwei bis drei Budweiser und füllte die Zitronen, die für die Limonade gedacht waren, abends in sein Whiskeyglas, das er mehrmals mit seinem Jack Daniel’s nachfüllte. Er wurde zum wahren Vollzeitalkoholiker. Aber dann zerfiel die Blockade, die er sich gegenüber der Vergangenheit aufgebaut hatte. „Numbing“ nannten die Ärzte seine immer