Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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die Kompresse auf die blutende Schnittwunde. Dann versuchte er in Windeseile die Technik, die ihm im Erste-Hilfe-Kurs beigebracht wurde, anzuwenden und wickelte die erste Binde drei Mal um ihre Hand. Als nächstes nahm er die andere verpackte Binde und drückte sie auf die Stelle, an der er die Kompresse bereits fixiert hatte und wickelte den Rest der Binde um sein sporadisches Druckpolster und verstaute das Ende in einer der entstandenen Falten. In der Zwischenzeit war auch Faye unten am Ort des Geschehens angelangt und beobachtete, wie David nun die blutige Scherbe vom Boden entfernte und sie in den Mülleimer warf.

      „Ist ja gut Kleines. Ist alles in Ordnung. Es hört gleich auf zu bluten“, beruhigte David sie und nahm sie auf seinen Arm, wobei er sorgsam darauf achtete, dass er ihre linke Hand nicht bewegte. Ihre Tränen durchnässten den Ärmel seines T-Shirts und vermischten sich dort mit dem aus ihrer Nase laufendem Sekret. Vor dem Sofa blieb er stehen und setzte sie ab.

      „Sieh mich an, meine Süße“, sagte er mit beruhigender Stimme während er sich vor sie hockte und begann ihren Kopf zu streicheln. Zoes Blick wanderte zu ihrer verletzten Hand. Sie schien kurz davor zu sein, einen weiteren Heulkrampf zu bekommen.

      „Hey, ich bin hier oben“, riss David sie aus ihrem Tunnelblick. „Alles wird gut werden. Deiner Hand wird es bald besser gehen. Hab keine Angst, es blutet bald nicht mehr so schlimm.“

      Doch seine beruhigenden Worte hatten keinen Einfluss auf sie. Sie schluchzte und weinte weiterhin in derselben Lautstärke wie zuvor. Im Hintergrund kehrte Faye die Scherben vom Boden auf. Eigentlich wollte sie David eine Szene machen, dass er sich doch gefälligst um sie kümmern sollte, jedoch konnte und wollte sie das nicht mehr, als sie gesehen hatte, dass er beinahe lehrbuchmäßig reagiert hatte. Es gab also keinen Grund, ihm einen Vorwurf zu machen. Ein erfahrener Sanitäter hätte zwar bemängelt, dass er Zoe nicht erklärt hatte, was er tun würde, um sie nicht zu verunsichern, aber sie wusste genau, dass das bei ihr auch nicht nötig war. Zoe vertraute ihm in jeder Situation blind und würde keine seiner Handlungen anzweifeln. Die Scherben klirrten, als sie im Mülleimer landeten.

      „Es ist gar nicht viel Blut.“

      Zoe hörte plötzlich auf zu schluchzen.

      „Keine Sorge. Es wird dir gut gehen, meine Kleine“, fuhr er fort in dem Glauben, sie damit weiter von der Verletzung an ihrer Hand ablenken zu können. Das tat er auch. Die Angst und die Schmerzen ihrer Wunde waren vergessen. Jedoch weckten seine Worte eine neue noch viel größere Angst in ihr. Sie wusste nicht wieso und wollte es auch nicht wissen. Alles was sie wusste war, dass das, was er sagte, ihr mehr Angst einjagte als der Schnitt, der sich durch ihre linke Hand zog.

      „Was ist passiert?“, unterbrach seine Mutter ihn. Beide sahen zu ihr auf. Ihre Haare waren zerzaust und klebten an ihrer schweißnassen Stirn.

      „Ich hab ein Glas fallen gelassen, und sie hat sich an einer Scherbe geschnitten, weil sie helfen wollte“, log er ihr vor, um Zoe vor seiner Mutter zu schützen. Er konnte jetzt keine wütende Faye Williams gebrauchen, die der ohnehin schon eingeschüchterten Zoe sinnlos noch mehr Angst einjagen würde. Zu seiner Überraschung wurde sie aber nicht wütend. Weder auf ihn noch auf sie. Im Gegenteil. Sie schien beruhigt zu sein. Beruhigt, weil ihr Sohn ohne sarkastische oder beleidigende Bemerkungen mit ihr geredet hatte. Das kaputte Glas war nun eher sekundär in ihren Augen. Auch sie begann, Zoe zur Beruhigung leicht an der Schulter zu streicheln. Hilfesuchend sah Zoe, die auf dem hellbraunen Ecksofa saß, Faye an.

      „Es verheilt bald wieder“, tröstete sie das kleine Mädchen und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

      „Ich bringe sie besser mal nach Hause“, meinte David und sah seine Mutter in der Hoffnung auf Zustimmung an. Sie nickte verständnisvoll und streichelte ein letztes Mal Zoes Schulter.

      „Wollen wir dich zu deiner Mom bringen?“ Sofort bejahte sie seine Frage. Nichts war ihr lieber, als nach Hause zu ihrer Mutter zu gehen, die sich vermutlich vollkommen überarbeitet um den Haushalt kümmerte, während ihr Vater mit einem Bier in der Hand auf dem alten blassgelben Gartenstuhl sitzen und ein Sportmagazin nach dem nächsten durchblättern würde. Ihm wäre es egal, ob sie wieder da wäre oder nicht, doch ihre Mutter würde sich sicher freuen, ihr kleines Mädchen wiederzusehen, bevor sie zu ihrem nächsten Job müsste. Schließlich arbeitete ihr Mann nicht mehr, seit er vor einigen Jahren wegen seinen Rücken- und Schulterproblemen von seinem Arbeitgeber gefeuert worden war. Seitdem hatte er nicht einmal versucht, sich eine neue Arbeitsstelle zu beschaffen, geschweige denn irgendwie anderweitig Geld zu verdienen. Er gab lieber das Geld, das seine Frau verdiente, für Alkohol, Zeitschriften und diverse Sportwetten aus. Wirklich Erfolg hatte er damit aber bisher noch nicht gehabt.

      „Irgendwann wird er kommen, Sarah! Der große Coup! Der Tag, an dem ich mit einer Wette endlich abkassiere und keiner von uns mehr arbeiten muss. Vertrau mir! Ich brauche nur noch etwas Geld, um die Wetten zu finanzieren“, hatte er sie jedes Mal angebettelt nach einer vergeigten Wette und sie jedes Mal überzeugen können. Trotz seiner schlecht platzierten Wetten und seinem verschwenderischen Umgang mit dem Geld, das ihm formal nicht einmal gehörte, schlug sie ihm nie einen Wunsch ab. Ihre blinde Vernarrtheit in sein früheres Ich, das noch Erfolg im Leben hatte und sich nicht mittags um zwölf seine erste Dose Bier öffnete, war das Fundament ihrer Ehe. Früher einmal galt er als gefragter Security bei höheren Anlässen und war auf dem besten Weg, nach ganz oben aufzusteigen. Doch eines Tages nahmen seine körperlichen Beschwerden überhand, und er bekam noch im Krankenhaus sein Kündigungsschreiben. Einen physisch eingeschränkten Security konnte man schließlich nicht gebrauchen. Ein paar wenige Male hatte er versucht, als Türsteher bei einem miesen Nachtclub wieder den qualifizierten Security zu mimen, doch bereits die erste Auseinandersetzung machte sein Rücken nicht mehr mit, und er gab das Security-Dasein auf. Von dem Tag an saß er zuhause rum und vertrieb sich die Zeit mit Trübsal blasen und eine Dose Budweiser nach der nächsten in sich hinein zu kippen. Wie jeder andere in dem kleinen Dorf hatte also auch er eine Geschichte, die nicht als Komödie sondern als Tragödie zu erzählen war.

      Zoe erhob sich leicht schniefend vom Sofa und versuchte, in ihre halboffenen zitronengelben Schuhe einzusteigen.

      „Warte, ich helf dir“, bat David ihr an und weitete die Schuhe mit beiden Händen, um ihr den Einstieg zu erleichtern. Langsam steckte sie erst ihren rechten und dann ihren linken Fuß in die Schuhe, welche David dann mit dem vorhandenen Klettverschluss schloss.

      „Bin gleich wieder da, Mom“, verabschiedete er sich kurz angebunden und zog sich nun auch seine Skechers an.

      „Ich sauge die übrigen Splitter in der Zeit weg“, sagte sie, und ein Hauch von Zufriedenheit mischte sich in ihren Satz ein. Der Stolz darauf, wie ihr Ältester reagiert hatte, schien noch etwas vorzuhalten.

      „Danke“, erwiderte er trocken und öffnete Zoe, der es immer noch aus Angst die Sprache verschlagen hatte, die Tür. Dann verließen sie gemeinsam das Haus und ließen eine unentschlossene Faye zurück, die sich im Unklaren war, ob sie es übers Herz bringen würde, ihren Sohn weg zu schicken. Wäre es ein ganz normaler Ort an den sie ihn schicken würde, würde ihr die Entscheidung leicht fallen. Aber da man so allerhand hörte und mitbekam von anderen Eltern, war die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich hoch, dass er je zurückkehren würde. Sie holte den Staubsauger aus der Besenkammer und dachte nicht weiter über diese Frage nach, sondern beschäftigte sich mit der Problematik, wie sie, ohne sich Socken oder Schuhe holen zu müssen, nicht in die kleinen Splitter trat, die die Größe eines Reiskorns hatten und weit auf dem Boden verstreut lagen.

      8

      „Hey, meine Süße“, begrüßte Mrs. Hillton ihre kleine Tochter, die eilig durch das Gartentor auf sie zu lief.

      „Guten Abend Mrs. Hillton“, rief David Zoes Mutter zu und blieb im offenen Tor stehen.

      „Hallo David“, antwortete sie ihm lächelnd. Ihre hellblonden Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden, der ebenso perfekt aussah wie ihre makellose, strahlend weiße Haut. Genau wie ihre Tochter hatte sie einen Eisenmangel, gegen den sie nicht wirklich etwas taten, weswegen keiner von beiden wirklich braun wurde, sondern sie ganzjährig