„Hey, Hey, Hey“, unterbrach David sie, „Wir brauchen auch noch welche für die Pfannkuchen. Es sei denn, du willst deine Pfannkuchen mit Sardinen essen. Die hätten wir auch noch da.“
„Ihhh“, sagte Zoe, wobei sie das Gesicht verzog, als hätte sie grade in eine Zitrone gebissen. Sie überlegte nicht lange und entschied sich doch für die Erdbeervariante und hörte auf zu naschen.
„Darf ich die Eier und die Milch vermischen?“, fragte Zoe und beugte sich interessiert über den Messbecher, in den David grade die Milch aus der Tüte goss.
7
Der restliche Nachmittag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Zoe und David aßen Pfannkuchen mit Erdbeeren und Ahornsirup, während sie sich auf dem Sofa sitzend „Frozen“ ansahen. Etwas unpassend für die Jahreszeit, fand David, aber das störte Zoe nicht. Ihr Glas Kool Aid hatte sie nicht bekommen. Stattdessen hielt sie nun ein Glas Orangensaft, den sie durch einen blauen Strohhalm trank, in der Hand und schaute gebannt zu, wie Anna und Kristoff sich grade auf dem Bildschirm küssten. David kannte die Szene in und auswendig. Schließlich sahen sie sich den Film gefühlt jede Woche an, da Zoe auch nicht bereit war, mal etwas Neues auszuprobieren. Sie hing etwas in dem Wunschdenken fest, dass sie eines Tages als Anna in David ihren Kristoff finden würde. Doch so lange sich dieser Wunsch nicht erfüllt hatte, blieb ihr nur der sehnsüchtige Blick auf den Fernseher und ihre Fantasie. Der Abspann des Filmes begann und David schaltete den Fernseher aus.
„Nochmal“, sagte sie müde und begann zu gähnen. Mittlerweile war es viertel nach sechs geworden.
„Oh Nein“, lachte David und nahm ihr das Glas aus der Hand, um es auf den Tisch zu stellen.
„Du musst gleich nach Hause und dann bald ins Bett, so müde wie du bist“, erklärte er ihr und stupste mit einem Finger ihre Nase an.
„Bin nicht müde“, entgegnete sie ihm empört und richtete sich aus ihrer liegenden Pose über seinem linken Oberschenkel wieder auf.
„Natürlich nicht.“ Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„David?“
„Ja, Zoe? Was ist?“
„Wirst du in den Ferien hier sein?“, fragte sie und kletterte auf seinen Schoß.
„Nicht jeden Tag, aber im Großen und Ganzen, ja. Wieso fragst du?“ Er griff ihr unter die Arme und half ihr auf seinen Schoß zu kommen. Sie zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht. Ich will nicht, dass du weg gehst. Du sollst hier bei mir bleiben. Dann beschütze ich dich“, erklärte sie ihm und lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust an.
„Wie meinst du das?“ David sah sie amüsiert und zugleich verwundert an.
„Was macht ein Pirat mit seinem Schatz?“
„Er vergräbt ihn.“
„Und warum?“, fragte Zoe weiter.
„Ach so. Ich bin dein Schatz, den du vergräbst, damit andere Piraten ihn dir nicht klauen können?“, fragte David, der verstanden hatte, worauf sie hinaus wollte. Sie hatte Angst jemand könnte sie ersetzen, wenn er längere Zeit nicht in ihrer Nähe wäre. Statt etwas zu sagen nickte sie stumm und sah ihn traurig mit ihren großen dunkelbraunen Augen an.
„Mach dir keine Sorgen, meine Große. Du hast mich schon so tief vergraben, dass mich garantiert keiner finden wird“, beschwichtige er sie und streichelte ihre blonden Haare. Ihr trauriger Blick verschwand und machte einem freudestrahlendem Lächeln Platz. Seine Antwort schien sie zufriedenzustellen. Zoe drehte sich in einer etwas schwankenden Bewegung herum und umarmte ihn mit ganzer Kraft und schmiegte sich dabei eng an seine Brust. Davids Blick wanderte zu der Wanduhr aus Eichenholz, die sich an der Wand rechts vom Sofa befand. Sie zeigte zwanzig nach sechs an. Beziehungsweise sollte sie das. Um genau zu sein, zeigte sie eigentlich gar nichts mehr an. Der kleine Zeiger war bei irgendeinem Frühlingsputz abgefallen und nicht mehr aufgetaucht. Lediglich der große Minutenzeiger befand sich noch an der Uhr und funktionierte, wie er es auch sollte. Davids Mutter hatte sie jedoch nie reparieren wollen, da sie Sorge hatte, dass sie dabei beschädigt werden könnte. Deswegen ließ sie sie dort einfach ohne Stundenzeiger hängen. Eigentlich wäre es nicht dramatisch, weil sie ja auch so noch wunderschön – potthässlich würde es besser treffen – sei und dem Raum das gewisse Etwas verleihen würde. Dass das gewisse Etwas in diesem Fall die Wirkung eines Fremdkörpers im Auge hatte, kümmerte sie nicht. Denn dafür, dass sie die Uhr eigentlich so schön fand, sah sie den traurigen Kreis aus Eichenholz mit nur einem Zeiger ziemlich selten an.
„Trink deinen Saft aus und dann bringe ich dich nach Hause“, sagte David und streichelte ihr über den Rücken. Er fühlte den warmen Schweiß durch den dünnen Stoff des T-Shirts hindurch. Sie würde nachher - wenn sie sie nicht schon jetzt hatte - fürchterliche Kopfschmerzen bekommen, dachte er sich. Sie hatte definitiv mehr Flüssigkeit verloren, als sie aufgenommen hatte. Sie kletterte von seinem Schoß hinunter und griff nach dem Glas, das auf der Glasplatte des Couchtisches stand. David erhob sich und stapelte die Teller, von denen sie vorhin gegessen hatten, um sie in die Spüle zu stellen. Das Abwaschen würde er auch erledigen können, wenn er wieder da war. Als er die Teller in die Spüle gestellt hatte, bedeckte er die übrig gebliebenen Pfannkuchen mit einer Plastikhaube, um sie vor Insekten zu schützen. Er hatte die Hoffnung, dass die schlechte Laune seiner Mutter verfliegen würde, wenn er ihr nachher – aus reiner Herzensgüte versteht sich – die restlichen drei Pfannkuchen anbieten würde.
„Fertig“, verkündete Zoe müde, aber auch stolz und reckte ihr leeres Glas mit dem zerkauten Strohhalm in die Höhe.
„Sehr schön, bringst du mir das Glas noch kurz?“, fragte er sie freundlich, während er noch mit dem Gedanken beschäftigt war, wie er seine Mutter am besten besänftigen konnte, ohne dass er sich entschuldigen musste. Grade, als er gedankenversunken den Wasserhahn aufdrehte um den klebrigen Ahornsirup von den Tellern grob zu lösen, klirrte hinter ihm Zoes Glas, in dem sich noch ein Bodensatz Saft befand, auf den harten Fliesen. Erschrocken zuckte David zusammen und fuhr herum. Zoe hockte bereits auf dem Boden, im Begriff die Scherben aufzuheben. Doch bevor er sie warnen konnte, war es schon zu spät. Ihre Hand und die gut vier Zentimeter lange Glasscherbe färbten sich rot. Blut rann aus ihrer Handfläche und tropfte auf den Boden zwischen die Reste des zersplitterten Trinkgefäßes. Sofort begann sie vor Schmerz zu schreien und zu weinen. Sie ließ die Scherbe, die die Form eines Halbmondes hatte, aus ihrer Hand fallen. In Windeseile schnappte David sich geistesgegenwärtig zwei Fixierbinden und eine sterile Kompresse aus dem Erste-Hilfe-Kasten, welchen seine Mutter, nach diversen Schnittverletzungen beim Kochen, in unmittelbarer Nähe zum Herd deponiert hatte. Man konnte ihr zwar vorwerfen, dass sie eine schlechte Mutter, eine Schlampe oder eine engstirnige Person sei, aber man konnte ihr keineswegs Vorwürfe machen, dass sie leichtfertig mit ihrer Sicherheit oder der ihrer Mitmenschen umgehen würde. Speziell aus diesem Grund war es mehr als nur merkwürdig, dass sie sich kaum um Bobby nach dessen Verschwinden, gesorgt hatte. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass er sich nicht mehr in ihrem Kontrollbereich befand. Schließlich kümmerte sie sich um die Sachen, die sie kontrollieren konnte, ganz besonders. Jedoch interessierten sie die Sachen, die außerhalb ihrer Reichweite waren, schon immer recht wenig.
„Was ist denn da unten los?“, tönte es vom oberen Treppenende herunter. David, der gemeinsam mit den Binden und der Wundkompresse die auf dem Boden sitzende Zoe erreicht hatte, hörte sie gar nicht. Er war viel zu konzentriert darauf Zoe schnellstmöglich einen Druckverband anzulegen. Der Schnitt des Glases war sauber und ziemlich tief, wie David feststellen musste.