Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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Part seiner Sitzreihe sorgte. Ein wenig verlegen zupfte er an seinem dunklen California T-Shirt und kratzte sich am Hinterkopf. Ein kurzes gemurmeltes „Herzlichen Glückwunsch“ und „Vielen Dank“ und schon war das Prozedere vorbei, und er konnte zu seinem Tisch zurückkehren. Wie erwartet. Er war in keinem Fach schlechter als B- und hatte keine negative Bemerkung erhalten. Also kein Grund für ein Gespräch mit der Direktorin. Seine Vermutung, dass in Wirklichkeit sein Verhalten zuhause gemeint war, schien sich zu bestätigen. Kopfschüttelnd setzte er sich hin.

      „Und?“, fragte Lance neugierig. Es war sein üblicher Versuch, Anschluss zu finden, denn niemand hatte Interesse daran, sich mit „Ginger Fat“ zu unterhalten geschweige denn anzufreunden. David stöhnte in sich hinein und schob ihm sein Zeugnis rüber. Same procedure as every Year James, dachte er genervt. Ein Satz, den Terry bei seinem Vortrag über ein britisches Theaterstück aus den Zwanzigern des Öfteren erwähnt hatte und die gesamte Situation wohl am besten beschrieb. Um welches Stück es sich handelte, wusste David nicht mehr, es war ihm aber auch egal. Zimmermann ging nach vorne und nahm als Letzter sein Zeugnis entgegen. Mrs. Prenton schnaufte erleichtert und tupfte sich die Stirn ab. Tales machte eine feixende Bemerkung, die David jedoch nicht wirklich verstehen konnte. Henry und Warren wahrscheinlich ebenso wenig, aber trotzdem grunzten sie erneut wie kleine Ferkel. Davids Zeugnis landete wieder auf seinem Tisch, und er verstaute es in seiner Tasche. „Wie schaffst du es jedes Jahr so ein gutes Zeugnis zu haben?“, quiekte Lance und lachte über seine eigene Frage. Verdammt er war wirklich ein absoluter Pflegefall, dachte David sich. Anstatt eine Antwort zu geben, zuckte er nur uninteressiert mit den Schultern, was Lance natürlich sofort kommentieren musste, da selbst das schon mehr Aufmerksamkeit war, als er sonst erhielt.

      „Voll krankes Tier“, sagte er lachend. Lance hatte es noch nie mit solchen Ausdrücken gehabt und seine Versuche, sie zu verwenden, scheiterten jedes Mal kläglich und machten seine Erscheinung noch trauriger, als sie ohnehin schon war. So peinlich seine Auftritte auch waren, steckte dahinter nichts anderes als der Wunsch nach Akzeptanz, welche er nirgendwo erhielt. Sein Vater hatte ihn und seine Mutter verlassen, und sie gab ihm auch heute nach zehn Jahren immer noch die Schuld dafür und verweigerte ihm jede Zuneigung. Aber so etwas war in dieser Schule nichts Besonderes. Insgesamt konnte man zurecht behaupten, dass die Schule neben ihrer hohen Quote an jungen Lehrerinnen auch eine hohe Quote an Scheidungs- und Waisenkindern vorzuweisen hatte. Beinahe sechzig Prozent der dort zur Schule gehenden Schüler lebten in einem zerrütteten oder zumindest beschädigten Verhältnis mit ihren Eltern. David war dabei keine Ausnahme. Sein Vater hatte sich, nachdem die Affäre seiner Frau aufgeflogen war, nach Irland abgesetzt, um möglichst großen Abstand zu ihr aufzubauen. Seitdem hatte er nichts mehr von ihm gehört und lebte alleine mit seiner Mutter in Kalifornien. Früher waren sie noch zu dritt, doch kurz nachdem Davids Vater verschwunden war, verschwand auch Bobby, Davids kleiner Bruder. Er war zwei Jahre jünger als David. Eines Tages als David vom Training zurückkehrte, fand er das Haus vollkommen verlassen vor. Seine Mutter war wieder einmal dabei, sich mit ihrem Makler einen vergnüglichen Abend zu machen, doch auch sein kleiner Bruder war nicht da. Von diesem Tag an war das letzte bisschen Vertrautheit zwischen ihm und seiner Mutter zerstört. Sie hätte zuhause sein sollen, wenn David nicht da war, weil Bobby oft zu depressiven Zügen ansetzte, und kurz davor stand, sich etwas anzutun.

      Die Schulglocke ertönte. Alle griffen nach ihren Taschen, um endlich diesen Kochtopf zu verlassen und die nächsten Wochen in aller Seelenruhe vor dem Ventilator zu verbringen. Mary machte einen letzten hoffnungslosen Versuch, Terry seinen Notenschnitt zu entlocken, wobei sie ihn mit traurigem, beinahe bettelnden Blick ansah und sich ihre braunen, gewellten Haare aus dem Gesicht strich. Selbstverständlich zeigte auch dieser Versuch keine Wirkung, und sie griff nach ihrer Tasche und zog genervt von dannen.

      „Schöne Ferien“, grinste Lance ihn an und offenbarte seine gelblichen Zähne, die – Gott sei Dank – größtenteils von einer Zahnspange überdeckt wurden. Wieder würdigte er ihn keiner Antwort, sondern nickte ihm nur schwach zu.

      „Kommen Sie David, ich will auch in die Ferien“, sagte Mrs. Prenton ungeduldig.

      „Jawohl Mrs. Prenton, Verzeihung“, antwortete er, während er seinen Rucksack auf seinen Rücken schwang und den Stuhl unter den Tisch schob.

      „Schon gut“, murmelte sie und gab ihm mit ihrer faltigen Hand zu verstehen, dass er vor ihr gehen sollte. Vermutlich, um bevor sie den Weg nach Hause antrat, eine ihrer filterlosen Zigaretten zu rauchen, die ihr Mann so verabscheute.

      „David“, hielt sie ihn zurück als er an ihr vorbeiging, „Ich weiß nicht wieso Ms. Robinson Sie sehen will, aber ich weiß ebenso wie Sie, dass Ihr Verhalten sowie Ihre Beteiligung am Unterricht stets meinen und den Erwartungen meiner Kollegen entsprechen. Lassen Sie sich nicht unterkriegen vom alten Geier.“ Die Bezeichnung von Ms. Robinson als „alter Geier“ war eigentlich in dieser Hinsicht falsch, denn sie war gut zwanzig Jahre jünger als Mrs. Prenton und damit keineswegs alt.

      „Danke Mrs. Prenton. Angenehme Ferien Ihnen.“ Trotz der faktisch unkorrekten Aussage hatte er selbstverständlich den Kern ihrer Aussage verstanden. Er war das Opfer der Laune seiner Mutter und die Standpauke, die er wahrscheinlich erhalten würde, war von rein privater Angelegenheit und hatte absolut nichts mit seinen schulischen Leistungen zu tun.

      „Ihnen auch David“, rief sie ihm kopfschüttelnd nach. Dann schloss sie die Tür, zog sich einen Stuhl heran, auf den sie stieg und den Rauchmelder abschaltete. Wenige Handgriffe später hielt sie eine glimmende, filterlose Zigarette zwischen den Fingern und blies mit geschlossenen Augen den Rauch durch ihre Nasenlöcher aus.

      2

      Der Flur, in dem David sich befand, schien endlos lang zu sein. Die kalten, grauen Wände waren mit Pinnwänden und Plakaten geschmückt und gaben dem Gebäude die einzig vorhandenen Farbakzente im Meer der Eintönigkeit. Milchig trübe Glastüren trennten den langen Korridor in einzelne Abschnitte. Das Geräusch seiner Skechers, die auf die schmutzigen weißen Fliesen traten, hallte durch den Gang. Schon wenige Minuten nach offiziellem Schulschluss war die Schule wie leergefegt. Die meisten Lehrer, die keine Lust hatten, bis zur letzten Stunde zu warten, gaben die Zeugnisse bereits zu Beginn heraus und entließen ihre Schüler dann frühzeitig in die lange Sommerpause. Keiner war sonderlich scharf darauf, den halben Tag in der Schule zu vergeuden, wo der eigentliche Grund des Erscheinens lediglich eine halbe Stunde benötigte. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür mischte sich in den Takt seiner Schritte mit ein. Kurz darauf ertönte hinter der Abzweigung, die nach rechts führte, der Klang eines weiteren Schuhpaares auf den Fliesen. Als er abbiegen wollte, stieß er mit einem großen, blassen Jungen zusammen. Er trug ein weißes Tank-Top, um das eine Bauchtasche geschnallt war. Seine langen Haare waren verfilzt und sahen aus, als wären sie seit Jahren nicht gewaschen worden.

      „Verpiss dich, Kleiner“, schnauzte der ungepflegte Junge ihn an. Doch als er aufsah und David erkannte, änderte sich sein Gesichtsausdruck, und er lächelte ihn schief an.

      „Ey Billy, was geht? Dachte du bist eines von diesen nervigen kleinen Kindern, die noch hiergeblieben sind, weil sie Angst vor den Typen haben, die ihnen draußen die Fresse polieren“, sagte er, was wohl gleichzeitig als Entschuldigung und als Erklärung für seinen Auftritt eben fungieren sollte. Die beiden Jungen klatschten sich ab. „Kein Problem, Trae“, sagte David, den Trae öfter Billy nannte. Das kam daher, dass Trae nicht sonderlich gut darin war, sich Namen zu merken und ihn deswegen anfangs bloß immer Billy genannt hatte. Jetzt war es jedoch nicht mehr als ein Spitzname.

      „Yo Mann, was machst du hier?“, fragte Trae, während er seine umgedrehte Cap zurechtrückte.

      „Ich hab einen Termin bei der Direktorin, wegen meines respektlosen Verhaltens“, antwortete er, wobei er das Wort „respektlos“ besonders lächerlich betonte. Trae begann so laut zu lachen, dass sein Echo den gesamten Flur flutete.

      „Starke Sache, Kumpel“, lobte er ihn und klopfte ihm auf die Schulter.

      „Ey aber mal was anderes. Willst du nicht doch bei uns einsteigen? Billy, wir könnten dich echt gut gebrauchen. Die Bezahlung