Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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begann zu weinen. Nicht schluchzend oder irgendwie hörbar, aber man konnte beobachten wie einzelne, glänzende Tränen ihre Wangen hinunterkullerten. Jetzt drehte David sich doch von seiner Mutter weg und wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Er hatte Sorge ein schlechtes Gewissen zu bekommen, nur, weil er das ausgesprochen hatte, was er schon längst hätte aussprechen sollen. Der Knoten war gewissermaßen geplatzt. Nach mehreren Jahren vergeblicher Liebesmüh, seiner Mom auf irgendeine Weise beizubringen, dass sie als Mutter ein einziger Katastrophenfall war, hatte er es nun nach diesem mehr als entnervenden Tag vollbracht, es ihr offen ins Gesicht zu schmettern. Aber er durfte jetzt nicht einlenken, denn wenn er das täte, dann würde sie es ganz einfach überspielen und vergessen lassen. Genau jetzt war der Zeitpunkt, reinen Tisch zu machen. Doch wozu noch? In nicht allzu langer Zeit würde er hier verschwinden und sich sein eigenes Leben aufbauen, fernab von alledem was ihn hier nur bedrückte. Er entschied sich, es nicht als Vorwurf oder beleidigend weiterführen zu wollen, sondern ihr es als Rat und Bitte für die Zukunft offenzulegen.

      „Du hast mir nie irgendwelche Regeln aufgestellt oder mir gesagt, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Du hast mich nie wirklich erzogen. Du hast dich nie für das interessiert, was ich getan habe oder für das, was Bobby getan hat als er noch da war. Du hast dich nie für einen von uns beiden interessiert. Nie habe ich mich mit dir über meine Probleme aussprechen können, nie habe ich etwas Zuneigung oder Aufmerksamkeit von dir verlangt, weil du nie jemanden um dich wolltest, der auch nur eine Sekunde über seine eigenen Probleme sprechen wollte“, erzählte er ihr. David drehte sich erneut zu ihr um, um ihr in die Augen sehen zu können. Der Fluss an Tränen hatte nachgelassen und eine dünne glitzernde Spur auf ihren Wangen nach sich gezogen.

      „Mom, was ich dir damit sagen will…“ Faye hob ihre Hand, um ihm zu signalisieren, dass er aufhören solle, weiter zu sprechen. Sie hatte sich genug Schwachsinn - welcher eigentlich keiner war - vorwerfen lassen müssen. Für sie war die Grenze nun lange überschritten. Ihre Entscheidung war gefallen. Nichts und niemand hätte sie nun noch umstimmen können.

      „Das, was du sagst, verletzt mich sehr“, sprach sie mit gemäßigtem Ton und biss sich auf die Unterlippe.

      „Du hast Recht. Das hier kann so nicht weitergehen.“

      „Was meinst du damit?“ Jetzt war David derjenige, der nicht verstand, was vor sich ging.

      „Wir brauchen eine Pause voneinander, um zu sehen, ob wir beide noch gemeinsam unter diesem Dach hier wohnen werden. Deswegen denke ich, brauchen wir etwas Abstand voneinander.“ Der Schock zeichnete sich deutlich in Davids Gesicht ab. Der Beutel mit den Tiefkühlbeeren entfernte sich langsam von seinem Auge und sank auf die Höhe seiner Hüfte herab. Er hatte mit vielem gerechnet. Aber mit Abstand? Ob sie noch gemeinsam wohnen werden? Er war erst 17 und noch gar nicht in der Lage, sich allein finanzieren zu können. Geschweige denn eine Wohnung oder einen einzigen Wocheneinkauf. Wie stellte sie sich das vor? Sollte er in seinem Auto leben? Oder bei Trae? Oder gar bei Zoe und ihrem Möchtegern Captain America von Vater? Das konnte einfach nicht ihr Ernst sein. Sie stritten zwar und waren kaum einer Meinung, doch würde sie ihn einfach so verstoßen?

      „Du willst mich loswerden, stimmts?“

      Die Wut stieg in ihm hoch. Nach all den Jahren, die sie es miteinander ausgehalten hatten, wollte sie ihn ausgerechnet dann loswerden, als er grade versuchte, etwas zu ihr zurückzufinden.

      „Hör auf, David! Stell nicht immer mich als die Böse hin! Das ist auf deinen Mist gewachsen, und du hast es selbst zu verantworten! Akzeptier deine Fehler!“

      „Ich soll meine Fehler akzeptieren? Und wieso tust du es dann nicht und gibst einfach zu, dass du versagt hast? Du hast Dad verscheucht! Bobby ist wegen dir abgehauen, und du hast noch nicht einmal versucht, ihn zu finden! Und jetzt brauchst du nur noch mich loswerden, und dann hast du es geschafft. Wenn ich weg bin, hast du dein Triple an verjagten Männern komplettiert. Dann kannst du für den Rest deines Lebens auf dem Sofa liegen und einen nach dem Nächsten zusehen, wie er angekrochen kommt, um sich dann doch abservieren zu lassen. Wieder und wieder.“

      Sein Ausdruck von Schock war aus seinem Gesicht gewichen und hatte seinem Zorn die gesamte Kontrolle übergeben. Wie angewurzelt stand Faye einfach nur da, unfähig etwas auf Davids Wörterschwall zu erwidern.

      „So denkst du über mich?“, quetschte sie mit aller Mühe doch noch aus ihrem scheinbar zugeschweißten Mund heraus. Diesmal würdigte David ihrer Frage keine Antwort. Langsam kam er auf sie zu.

      „Was hast du vor? Wie sieht deine tolle Pause aus?“, fragte er mit sarkastischem Unterton. Faye atmete tief durch. Ein langer Atemzug, dann drehte sie sich um und verließ die Küche.

      „Pff“, schnaubte David verächtlich und drückte sich die Tüte erneut auf sein angeschwollenes Auge. Doch anstatt, dass sie vor der Antwort flüchtete, kam sie wenige Sekunden später mit einem Zettel in der Hand zurück.

      „Lauriea Summer School“, sagte sie emotionslos und legte ihm den Zettel auf den Ebenholztisch hinter ihm.

      „Das ist unsere Pause. Du wirst die Ferien dort verbringen.“

      Ein Lächeln bildete sich auf Davids Lippen.

       Eine Sommerschule? Wie kreativ, um jemanden loszuwerden, um in Ruhe miese Immobilienmakler zu sich ins Haus zu locken, wie die Hexe in Hänsel und Gretel.

      Nur mit der Ausnahme, dass sie in diesem Fall das Lebkuchenhaus darstellte und die Hexe ihren schlechten und unausstehlichen Charakter. Erst lockte sie die Männer mit ihrer Verführungskunst an, um sie dann von ihrer inneren Hexe alles für sie tun zu lassen, damit sie noch etwas länger von dem süßen Pfefferkuchenhäuschen naschen konnten. Denn genau das war sie. Eine süße Versuchung, die sich jedoch im Laufe der Zeit als tödliche Herausforderung offenbaren würde. Überrascht von dem bestimmten und offensichtlich geplanten Handeln seiner Mutter, drehte er sich herum und sah sich schmunzelnd den Schrieb an, den seine Mutter scheinbar schon länger in der Hinterhand hatte, falls es ihr einmal zu viel mit ihm werden würde. Sowohl am Briefkopf, auf dem als Datum der 23.05.2018 prangte, als auch an den unteren Ecken waren deutliche Falten zu erkennen, und in der Mitte zog sich ein Knick quer durch das Blatt. Es war bereits öfter zusammengefaltet und wieder auseinandergebreitet worden. Vermutlich in allen Situationen, in denen sie überlegt hatte, ob sie ihn dort hinschicken sollte oder nicht. Dutzende Male hatte sie den Brief überflogen und sich dann doch entschieden, es nicht zu tun. Doch der heutige Tag hatte das ohnehin schon randvolle Fass noch voller gemacht, als es eigentlich überhaupt sein könnte. Mit einem Male schien alles anders und all ihre Bedenken verschwunden zu sein. Trotz dessen schaffte sie es nicht, ruhig zu bleiben, während ihr Sohn das zerknitterte Blatt Papier in den Händen hielt und sich einen Überblick über dessen Inhalt verschaffte. Nervös fuhr sie sich durchs Haar und kratzte sich immer wieder im Nacken. Seltsam wenn man bedenkt, dass sie kein einziges Mal einen ihrer nervösen Tics hatte, als Paul überraschenderweise seine Koffer gepackt hatte. Scheinbar hatte sie das nicht so mitgenommen, wie es die aktuelle Situation grade tat.

      „Reggieland?“, las er laut vor und sah seine Mutter fragend an.

      „Das ist ein Dorf. Etwa drei Autostunden von hier entfernt“, erklärte sie ihm und kratzte sich nun an der Schläfe. Ohne etwas zu entgegnen wandte er sich wieder dem Brief zu. Er las das Infoblatt zu Ende und legte es wieder auf den Tisch. „Ich fasse das mal zusammen. Du schickst mich trotz meiner guten Noten auf eine Sommerschule mitten im Nirgendwo, wo der Ausgang sowie das Mitführen sämtlicher elektronischer Geräte und jeglicher religiöser Schriftstücke verboten ist“, zitierte er den Brief. Auch, wenn die Situation scheinbar ungünstig für so etwas war, musste er in sich hineinschmunzeln, als er die letzte Bedingung vorlas.

       Gepriesen sei das Mobiltelefon, doch weder das eine noch das andere ist hier erlaubt, mein Sohn. Amen.

      „Um Abstand generieren zu können, weil du unsere Lage neu bewerten willst?“, fuhr er fort und warf ihr einen verzweifelten Blick zu.

      „Ja, das ist das, was ich dir sagen will“, bestätigte ihn seine Mutter. Ihr kalter Blick und ihr kühler Unterton erwischte ihn wie ein Blitzschlag und ließ ihn die Situation erstmals tatsächlich ernstnehmen.