Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
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      9

      Stille herrschte in dem Haus der Williams, als David die Eingangstür öffnete. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie sorgfältig unter die Garderobe zu den High Heels seiner Mutter. Echte Markenschuhe aus schwarzem Leder von Christian Louboutin. Normalerweise standen sie in ihrem Kleiderschrank, damit sie bestmöglich vor Schmutz und anderen unschönen Verunreinigungen geschützt waren. Sie standen aus dem Grunde dort, weil Faye die letzte Nacht gemeinsam mit ihrer Cousine – der Direktorin von Davids High School – im Club, welcher sich etwas außerhalb des Dorfes befand, durchgetanzt hatte. Geschlafen, beziehungsweise gewartet, bis sie wieder halbwegs nüchtern und imstande gewesen war, sich auf den Heimweg zu begeben, hatte sie bei ihrer Cousine, die nur einen knappen Kilometer von dem Club entfernt wohnte. Praktisch, wenn man Single war und keine anderen Interessen hatte, außer sich zu besaufen und sich auf der Tanzfläche einen attraktiven – oder auch weniger attraktiven, was machte das schon, wenn man sternhagelvoll war - Mann zu suchen und mit diesem im Besten Falle schnell nach Hause ins heimische Bett steigen zu können. Als Faye gegen neun Uhr zuhause angelangt war, kümmerten sie die Schuhe keinesfalls mehr. Sie wollte nur noch ins Bett und ihren Rausch ausschlafen können. Nachdem David seine Schuhe ausgezogen hatte, begab er sich in die Küche und öffnete den Tiefkühlschrank. Sofort spürte er die Kälte, die er abgab und seine überhitzte Haut zumindest kurzfristig auf eine angenehme Temperatur herunterkühlte. Er öffnete das Mittlere der fünf Fächer und holte einen Beutel heraus, in welchem sich eine Mischung aus diversen tiefgefrorenen Waldbeeren befand. Das gesamte Fach war bis oben hin gefüllt mit den blauen Plastikbeuteln. Eigentlich war fast der gesamte Tiefkühler gefüllt mit gefrorenen Früchten und Beeren jeder Art. Die Ausnahme stellten ein paar „Ben & Jerry’s Cookie Dough“ Eisbecher in der obersten Schublade dar. Faye hatte sie sich nach Pauls Trennung gekauft, um klischeehaft gegen den Frust und die Trauer anzuessen. Jedoch hatte sie bereits bei dem ersten Becher nach der Hälfte aufgehört, zu essen und somit das Drama beendet. Seitdem standen die übrigen zwei Eisbecher dort unberührt. Auch David wollte sie nicht anrühren, da sie ihm erstens einfach viel zu süß waren, und zweitens wurde sein persönliches Numbing selbst durch diese Masse aus Zucker, Vanilleextrakt, Kakao und Eiern ausgelöst. Zwar würde kein Psychologe der Welt es wirklich als Numbing in der Situation bezeichnen, sondern als Assoziierung mit einem schmerzlichen und bisher unverarbeiteten Ereignis kennzeichnen, aber dieses Wort verfolgte ihn immer und überall. Numbing war der Grund für seine zerrüttete Familie, somit gehörte es auch ein Stück weit zu ihm.

      David drückte die Packung mit den Beeren auf sein linkes Auge, welches vor wenigen Minuten der betrunkene und gefrustete Cal Hillton versucht hatte, zu malträtieren. Inzwischen war es etwas angeschwollen und färbte sich bereits unter dem Augapfel leicht bläulich. Mit Schwung warf er die Tür zu.

      „So eine Scheiße!“, brüllte er sich selbst an und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Küchenablage auf. Der gesamte Tag war ein einziges Desaster, und mittlerweile war er noch gereizter als heute Nachmittag, als seine vom Feiern übermüdete Mutter ihn aufgefordert hatte, sich für sein Verhalten und seine berechtigten Kommentare zu entschuldigen.

      „Schatz, was ist los?“, fragte seine Mutter, die um die Ecke kam und immer noch dasselbe Outfit wie vor einigen Stunden trug.

      „Wonach sieht es denn aus?“, entgegnete er genervt und starrte die blassgelbe Küchenwand vor sich an.

      „Was meinst du?“ Verbittert erhob er sich aus seiner gebeugten Position und offenbarte seiner Mutter sein wachsendes Veilchen am linken Auge.

      „David, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken, „Bist du dem Abhängigen über den Weg gelaufen? Hat er dir das angetan?“

      „Verdammte Scheiße, Nein! Lass doch endlich Trae aus deinen Fantasien raus, Mom!“, brüllte er ihr wütend entgegen und stützte sich wieder mit den Ellenbogen auf der Ablage auf. Seine Mutter war zwar verärgert über seinen Ausbruch, brachte dem jedoch nichts entgegen, da sie selbst wusste, dass es ungerecht war, direkt auf Trae zu schließen. Schließlich macht der Drogenkonsum einen Menschen nicht automatisch zum Schläger oder zu einem schlechten Menschen.

      „Mr. Hillton hat mich geschlagen. Er war betrunken und dachte, ich hätte Zoe verletzt und sie absichtlich mit einer Glasscherbe geschnitten. Er hält mich für irgend so einen Pädophilen, glaube ich, der seine Tochter anfasst und irgendwelche kranken Fetische an ihr ausüben würde“, erklärte er seiner Mutter mit gedrosselter Lautstärke. Wie erwartet reagierte seine Mutter nicht. Alles, was sie tat, war ihm sanft den Arm um die Schulter zu legen. Keine tröstenden Worte oder eine Empörung über sein Verhalten. Einfach nur ihr Arm und seine Schulter. Genau wie früher schon, war sie unfassbar schlecht darin eine Mutter zu sein und sich wie eine zu verhalten. Sie scheute sich nicht einmal davor, ihr Desinteresse offen zu zeigen. Der einzige Versuch, einen Hauch an Interesse vorzutäuschen, bestand darin, dass sie sich überhaupt dazu herabließ, ihn zu fragen, was passiert sei.

      „Wie ist es ausgegangen?“, erkundigte sie sich, wobei die Frage nach dem Ausgang der Situation aus ihrem Munde so klang, als würde sie nach den Ergebnissen vom Sport fragen, und nicht nach der körperlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dem betrunkenen Mr. Hillton.

      „Ich habe versucht, mich zu wehren“, erzählte er.

      „Ich habe ihm einen Kinnhaken verpasst. Er fiel hin und musste sich übergeben. Ich habe ihm scheinbar einen Zahn ausgeschlagen, jedenfalls hat er ein Stück davon ausgespuckt.“

      Enttäuscht von sich selbst senkte er den Blick. Sein Vater hatte ihm früher beigebracht, dass, wenn jemand ihm auf die Wange schlägt, er auch die andere hinhalten solle. Er hatte gesagt, dass das eine von Jesus‘ Lehren aus der Bibel sei und er sich daran halten müsse und keinem Schaden zufügen dürfte, schließlich sei er ein guter Christ, was er in Wirklichkeit ganz und gar nicht war. Was er ihm jedoch nicht erzählt hatte, war, dass Jesus, wenn ein übergewichtiger, wütender Ex-Security auf ihn einschlagen würde, er sich diese Worte wahrscheinlich noch einmal gut überlegt hätte.

      „Ich bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter, womit sie erneut ihre Unfähigkeit bestätigte. Kein vernünftiges Elternteil würde seinem Sohn sagen, dass es stolz auf ihn wäre, wenn er einen Mann, der ihn geschlagen hatte, zurückgeschlagen hätte. Ein verständnisvolles „es war nicht deine Schuld, du hast dich schließlich nur gewehrt“ wäre die deutlich neutralere und pädagogisch wertvollere Aussage gewesen.

      „Als ob du wüsstest, was es heißt, stolz auf mich zu sein“, entgegnete er ihr schlagkräftig und entzog sich ihrer Umarmung.

      „Was soll das schon wieder heißen?“, fragte Faye aufgebracht.

      „Sag mal, ist eigentlich alles, was ich sage, so ein großes Rätsel für dich?“

      Seine Mutter reagierte nicht.

      „Du hast doch keine Ahnung was es heißt stolz zu sein! Was du als Stolz bezeichnest, ist einfach nur deine Ignoranz und deine elende Vorstellung, alles zu wissen und jedem etwas vormachen zu können!“ Während er seine Schimpftirade hielt, entfernte er sich immer weiter von ihr, wobei er ihr jedoch weiterhin in die Augen sah. Er wollte, dass sie sah, wie ernst es ihm war. Ansonsten würde sie wieder mithilfe ihrer Klatschblattweisheiten schlussfolgern, dass er, wenn er sich von ihr abwendete, einfach zeigte, dass er verletzt wäre. Dies müsste dann nicht einmal auf sie zurückzuführen sein, hatte sie gelesen. Jedenfalls redete sie sich das ein, denn in Wahrheit hatte sie noch nirgendwo gelesen, dass der Angesprochene somit von jeder Schuld ausgenommen werden konnte.

      „Toll, dass du dem Nachbarsjungen den Ball gestohlen hast, weil er ihn ausversehen auf unser Grundstück geschossen hat. Gut gemacht, ich bin stolz auf dich! Ja, wie wunderbar, dass du zugesehen hast, wie ein Kind, das neu an der High School war, von vier Jungen, die drei Jahre jünger als du sind, verprügelt wurde und nichts getan hast! Das hast du erstklassig gemacht! Super, dass du Mr. Hillton einen Zahn ausgeschlagen hast, weil man ja Schläge mit Schlägen vergelten soll! Noch besser wäre es gewesen, wenn er jetzt im Krankenhaus liegen würde, denn