SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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künftige Schülergenerationen aus ihrer Zeit Überlieferungswertes aus der unseren mit einer Elle messen, an der wir nur die ersten Messdaten und Maßeinheiten eingeritzt haben. Aber diese sind unauslöschlich, nur: Welche sind einkerbungswürdig?

      Hier liegt der Grund zur zweiten Vorbemerkung, der persönlichen: Dem Chronisten fällt heute die fast unlösbare Aufgabe zu, aus der Fülle von Daten, Ereignissen, Notizen, aus Berichten und gelebten Erinnerungen diejenigen auszuwählen, die das Bild dieser Schule in eine Zukunft transmittieren (hinübertragen). Und dabei ist der Chronist doch direkt Betroffener, subjektiv Beteiligter. Was wählt er aus? Wie sagt er es der Nachwelt? Der Auftraggeber des Chronisten, die Gesamtkonferenz des Kollegiums, hat nach langer Diskussion über Sinn und Thema eines Festvortrages aus Anlass dieses Jubiläums entschieden, dass statt einer wissenschaftlich-theoretischen Abhandlung über die „Chancen eines Gymnasiums in heutiger Zeit“ das Gymnasium selbst, seine Menschen, die in ihm lernen oder lehren, die in ihm arbeiten, Gegenstand dieser Feierstunde sein mögen: Alltag, Leben gegen Theorie. Und die Konferenz hat in zweimaliger Abstimmung – das zweite Mal gegen Wünsche von außen – den Chronisten zum Berichterstatter gewählt. Diesem Votum des Kollegiums weiß sich der Chronist verpflichtet. Wenn bei der Auswahl der Bilder oder Ereignisse, die das Leben und Wirken dieser Schule charakterisieren, Erwartetes unerwähnt bleibt, Unerwartetes in den Rang des Erwählten oder nur Erwähnten rückt, wenn das gewählte Beispiel oder auch der Ton des Berichtenden auf der einen Seite möglicherweise Unmut, auf der anderen dagegen Zustimmung hervorrufen sollte, halten Sie es der Unzulänglichkeit alles Menschlichen zugute, der auch der Chronist unterworfen ist. Und sollte heute irgendjemand gar aus seinen Worten Kritik herauszuhören meinen: sie ist es nicht – allenfalls Kommentar aus Liebe zum Gegenstand.

      Wer, ausgestattet mit den wissenschaftlichen Zeugnissen seines Fachbereichs, vor 20 Jahren oder mehr das Gymnasium in Osterholz-Scharmbeck voll pädagogischen Tatendranges, das hehre Universitätswissen auch in den entlegenen Gefilden niedersächsischer Moorlandschaft umzusetzen suchte, der hätte an der Stelle, wo wir uns heute befinden, nur eine feuchte Wiese vorgefunden. Er hätte vielmehr von dem nicht gerade zum Aussteigen einladenden Bahnhof aus die Bahnhofstraße in Richtung eines eigenartig beißenden Gestanks zu folgen brauchen, um in unmittelbarer Nähe dieser Geruchsquelle die ihm zugewiesene Lehranstalt zu entdecken. (Die heutige Pestalozzi-Schule gegenüber dem Hauptgebäude der Kreissparkasse.) Nachdenklich-zögernde Schritte führen den seine erste Dienststelle antretenden Neuankömmling über die Eingangsstufen des alten Backsteingebäudes in einen dunklen Flur zu einem Sekretariat von ca. 9 qm Umfang. Ein Stockwerk höher, in einem etwa 3 qm größeren Raum, dem Direktorenzimmer, dann die Vereidigung. Die Reiswerke sind selbst hierbei unüberriechbar gegenwärtig. Doch hören wir – schon zwei Jahre später, im Frühjahr 1965 – eine Schülerin der 10. Klasse über unser erstes Domizil:

      „Das Gymnasium, das aus zwei großen Backsteingebäuden besteht, hat einen für die ständig zunehmende Schülerzahl viel zu kleinen Schulhof, der weder gepflastert noch bewachsen ist und bei jedem Schritt riesige schwarze Staubwolken aufwirft … Die altmodischen Räume, oft viel zu klein für die Zahl der Schüler, haben zwar meistens vier, jedoch viel zu kleine, unmoderne Fenster … Der Fußboden ist ölig und staubig … der dunkle und sehr kalte Raum (der Turnhalle) erregt vor allem bei den sowieso schlechten Sportlern nicht die geringste Lust zum Spielen und Turnen … In den winzigen Waschräumen befindet sich wohl ein kleines Waschbecken, doch Seife ist dort nicht zu finden, und das Handtuch, sorgsam am Haken festgenäht, sieht aus, als habe es schon zur Zeit unserer Eltern dort gehangen … Nun, da ich versucht habe, den Zustand der Schule so klar wie möglich zu beschreiben, muss ich noch auf die Lage des Gebäudes zurückkommen. Es steht direkt neben einer Fabrik, die sich durch schlechte, abstoßende Gerüche und aufschreckendes Tuten und Pfeifen bemerkbar macht und dadurch Schüler und Lehrer aus tiefem ‚Schlaf‘ oder konzentrierter Erklärung stört.“ Soweit die Schülerin. Bemerkenswerte Beobachtungen.

      Und ist es nicht zu verstehen, dass jener Neuankömmling, von dem oben die Rede war, mehr als nur laut dachte: „Hier bleibe ich nicht länger als ein Jahr.“ Und heute ist es schon das 23.. Waren es die Menschen? War es die Aufgabe? War es der Reiz des Aufbruchs mit jungen Menschen zu gemeinsamer Arbeit, zu einem gemeinsamen Ziel? Wer kannte damals schon den Weg?

      Das Gymnasium Osterholz-Scharmbeck ist das Kind einer Fragebogenaktion. „Die Initiative …– so berichtete das OSTERHOLZER KREISBLATT – …ging nicht von den Kommunalbehörden aus, sondern von der Bevölkerung. Die parlamentarischen Körperschaften verhielten sich eher ablehnend.“ Und auch die Begründung von damals mag uns Heutigen fast unverständlich erscheinen, wenn wir der ebenfalls im OK festgehaltenen Stellungnahme zweier Kreistagsabgeordneter aus öffentlicher Sitzung unsere Aufmerksamkeit leihen: „Wir brauchen keine Oberschule; denn dann wird es noch schwieriger, junge Leute als Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu erhalten.“ Und die zweite Äußerung: „Wenn im Landkreis Osterholz jemals genügend Schüler für ein Gymnasium zusammenkommen, dann will ich Meier heißen… (und dieses Zitat soll nach Ohrenzeugen noch weiter lauten) …und einen Besen fressen.“ Müssen wir in dem ersten Falle nicht an die Zeit von damals denken: zehn Jahre nach Kriegsende? Und spiegelt sich im zweiten Falle etwa die Einstellung eines späteren Oberprimaners vom Alten Gymnasium in Bremen wider, der nach der Eröffnung unserer Tore in der Bahnhofstraße eher mitleidig und von sich überzeugt gegenüber unserem ersten Schulleiter meinte, ob er wirklich glaube, dass „Ärzte, Juristen oder Ingenieure ihre Kinder in dieses sogenannte Gymnasium schicken“ würden? – Kein Kommentar des Kommentars.

      Doch die 1955 ins Leben gerufene „Interessengemeinschaft zur Gründung einer Oberschule“ sammelte überall im Landkreis Stimmen für ihr Vorhaben und fand auch schließlich Gehör: beim Rat der Stadt Osterholz-Scharmbeck. Dieser beschloss im Dezember 1958, die Schulträgerschaft für das Gymnasium zu übernehmen und ihm nach Fertigstellung der Mittelschule in der Lindenstraße (heute Orientierungsstufe) die beiden Gebäude in der Bahnhofstraße zu überlassen. Am 21. April 1960 eröffnete das Gymnasium für 72 Schüler und zwei Klassen, einer 5. und einer 7., mit zwei Lehrern seine Pforten. Mir sei erlaubt, hier die beiden Namen zu nennen: Herr Schirmer als federführender Schulleiter, Frau Roth als Allround-Studienrätin. Das war vor 25 Jahren! Die Vorgeschichte des Gymnasiums ist beendet, es beginnt seine Geschichte. Die erste Kerbe ist eingeritzt in der Messlatte unserer Arbeit.

      Der Aufbruch mag zaghaft gewesen sein, voller Bedenken, voller Skepsis, ob das begonnene Unternehmen nicht doch als zweifelhaftes Experiment abgebrochen werden musste. Die Skeptiker wurden widerlegt: Im zweiten Jahre waren wir 148 Schüler in 4 Klassen, 1962 225 Schüler in 7 Klassen, 1963 283 Schüler in 10, 1964 367 Schüler in 13, 1965 477 Schüler in 16 Klassen. Dies ist der Zeitraum unseres Wirkens in der Bahnhofstraße. Das OK kommentiert jene Entwicklung 1965 mit folgenden Worten: „Die bisherige Geschichte des Gymnasiums Osterholz-Scharmbeck ist geradezu faszinierend … Inzwischen sind es 16 Klassen mit 480 Schülern geworden, bald werden es 26 Klassen mit 700 Schülern sein.“ Hatte man sich damals schon wieder verschätzt? Doch – greifen wir den Ereignissen nicht voraus, beschließen wir den ersten und auch sehr wichtigen Abschnitt unserer Reise in die Zukunft, die schon hinter uns liegt, mit einigen Gedanken über unsere Hinterlassenschaft.

      Widerlegt waren die Skeptiker aus der Gründungszeit durch die Bereitschaft der Eltern, nicht nur das Bildungsangebot auf dem flachen Lande anzunehmen, sondern auch unserer Arbeit wohl überwiegend zu vertrauen: Sie schickten ja schon ihre Zehnjährigen zu uns. Und wie schnell kann da ein junges Menschenherz beschädigt werden! Und stellen wir uns ehrlich der Frage: Habt ihr nicht manchmal Gerechtigkeit mit dem Rotstift gesucht, wo ein Wort hätte gesprochen werden sollen? Wer kann im Nachhinein noch helfen? Sie sind nun alle groß geworden, die damals unsere Schüler waren und haben ihre Kinder heute wieder bei uns. Arbeit an Generationen ist schön, aber verpflichtet im Beispiel – ich scheue das Wort ‚Vorbild‘. Wir kannten uns alle damals und konnten doch ausgleichen, wenn unterschiedliche pädagogische Temperamente dem einen oder anderen wehgetan. Gemeinsam haben wir alle – Schüler wie Lehrer – die widrigen äußeren Umstände bestanden und mit Elan uns unsere oft belächelte Welt erschlossen – geistig und in von Jahr zu Jahr zunehmender bewusster Auseinandersetzung mit dem Alltag. Schulalltag