SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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während die Menschen sich in Städten und Dschungeln zerbomben, zerfleischen oder in Wüsten verhungern. Und alles unter dieser gedanken- und bedenkenlosen Devise: „Weiter so.“

      Das zweite Grundübel, dem es zu widerstehen gilt: der Verlust an Frieden und die Herrschaft durch Abschreckung. Seit den Tagen des alten Heraklit geistert das Leitwort des Krieges durch die Menschhirne, dieses „pólemos patér hapánton“: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“. Zweieinhalbjahrtausende Menschheitsgeschichte haben nicht vermocht, die Zahl der Getöteten und die Stätten der Zerstörung dem Machtwahn Einzelner oder einzelner Staaten als abschreckendes Beispiel vorzuhalten. Vielmehr halten Politiker und Militärs Eurer Generation mit dem Strategiekonzept einer nuklearen Abschreckung Waffenarsenale und Vernichtungspotentiale bereit, die, kämen sie zur Anwendung, ein Nachdenken darüber unmöglich machten: Es gäbe uns nicht mehr. Und nicht wenige von Euch müssen solche Waffen handhaben lernen, die uns alle töten. Das ist heute die Perversion, die letzte Konsequenz des Waffenhandwerks. Wir wären unaufrichtig, feige, würden wir Euch das nicht sagen.

      Bevor ich zur Skizzierung der Wurzeln dieses Übels komme, muss ich eine in der Öffentlichkeit gerne vorgebrachte Behauptung richtigstellen: Erst der militärischen Präsenz und der nuklearen Abschreckung verdankten wir in Europa seit mehr als 40 Jahren den Zustand des Friedens. Das stimmt ja so gar nicht: So wie es den ‚schäbigen Krieg‘ gibt, gibt es auch den ‚faulen Frieden‘ (Bloch). Und in einem solchen Zustand leben wir hier in Europa seit 1945: An mehr als 150 Kriegen mit mehr als 30 Millionen Toten sind in diesen vier Jahrzehnten die Bündnisländer beider Militärblöcke, NATO und Warschauer Pakt, beteiligt gewesen mit Waffenlieferungen, Ausrüstungen, Ausbildern und Geld. Auch unsere Rüstungsindustrie verdient am Geschäft mit Waffen.

      Wo aber sind die Wurzeln dieses Unfriedens? Kriege finden nicht aus heiterem Himmel statt, Kriege werden gewollt, d. h., sie werden im Innern des Menschen geboren und sind Ausdruck friedloser Gesinnung. Ein einzelner Mächtiger, eine Gruppe von Mächtigen, eine Weltmacht will den Krieg und beschließt ihn dann auch. Da aber kein Politiker und keine Regierung gerne zugeben, Macht- und Eroberungsgelüste zu befriedigen, muss das Argument der Verteidigung, der Notwehr Existenz und Handlungen des Militärs rechtfertigen. Das aber heißt – ich zitiere jetzt wieder Nietzsche: „…sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muss, wenn unser Staat notwendig an die Mittel der Notwehr denken soll … Diese Voraussetzung ist aber eine Inhumanität, so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie dem Nachbar die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindliche Gesinnung und Tat zu provozieren scheint.“

      Wir stoßen hier auf die nächste Wurzel des Übels: Feindliche Gesinnung setzt Feindbilddenken und Bedrohungspsychosen voraus. Und wer sich bedroht denkt, rechtfertigt das Mittel massiver Abschreckung, die selbst wieder Drohung ist und erneute Bedrohung auslöst. Von all dem – glaube ich – haben gerade wir Deutschen in unserer jüngsten Geschichte genug erfahren. Aber gelernt zu haben aus ihr scheinen wir nicht.

      Ich befürchte, die jüngsten mahnenden Worte des Bundespräsidenten auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr sind auf wenig offene Ohren gestoßen. Wenn der verantwortliche Minister auf der 24. Wehrkundetagung in München im Februar dieses Jahres ein nachlassendes Bedrohungsbewusstsein der westlichen Bevölkerung bedauert und kritisiert hat und der Generalinspekteur der Bundeswehr auf jener Kommandeurstagung in Oldenburg als Begründung neuer Rüstungsforderungen die Bedrohung aus dem Osten angeführt hat, dann zeigt sich hier staatliche Macht nicht bereit, ja, unwillens, auch nur im Ansatz militärische Denkkategorien aufzugeben – und wir bedürfen so dringend friedfertiger! „Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung heraus – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss.“ Vor dieser Chance – von Nietzsche uns vor über 100 Jahren in Worten hinterlassen – steht die Menschheit jetzt.

      Nur fürchte ich, das erste große, mit viel Hoffnung in Ost und West erwartete Abrüstungsvorhaben im Bereich der atomaren Mittelstreckenraketen wird sich aus militärischen Sachzwängen und bündnispolitischen Strategieplänen zerschlagen. Und die Bundesrepublik wird ihren Anteil daran haben. Es gibt einflussreiche Kräfte bei uns, die die Null-Lösung in jenem Bereich verhindern wollen. Und wenn mit Beginn der 90er Jahre die verbleibenden Pershing-1A-Raketen modernisiert werden, hat die Bundesregierung wohl endgültig vor ihren Bürgern die Glaubwürdigkeit und vor der Geschichte den Anspruch verloren, den Frieden endlich gewollt zu haben. –

      Liebe Abiturientinnen und Abiturienten! Ich konnte hier nur aus meiner Sicht und meiner Erfahrung eine Zustandsbeschreibung der Wirklichkeit skizzieren, in die Ihr nun entlassen werdet. Sie scheint wenig einladend. Bei aller funktionierender Anonymität, bei aller Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit, bei aller noch so organisierter Perfektion: Wir sind zurückgeworfen auf unsere Menschlichkeit. Das klingt paradox, ist aber d i e Chance zur Umkehr in einer Welt, die wissend ans Ende will. Ihr aber seid Anfang! Ihr müsst diese Chance zur Umkehr ergreifen, mit dem Mut zum Widerstand gegen das, was Euch diese, Eure Welt kaputtmacht. Ich kann Euch dafür keine Patentrezepte geben, Ihr selbst müsst sie Euch erfahren. Und niemand kann sich drücken, jeder ist gefordert: wo Ihr auch weiterlernt, wo Ihr auch arbeitet, wo Ihr auch lebt. Wehrt Euch gegen die Gleichgültigkeit in dieser Welt! Wehrt Euch gegen den Hochmut in dieser Welt! Wehrt Euch gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt! Wehrt Euch gegen die Gewalt in dieser Welt, woher sie auch kommt. Hier liegt Eure Verantwortung f ü r diese Welt. Eure Kraft hierzu sei Zivilcourage!

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      1.1.4 Nach-Wort im Jahrbuch an die Entlassenen des Abiturjahrgangs1988

      (StD. Klaus Schikore (Kurslehrer u. Abiturkoordinator)

      Unser Leben hat viele Abschiede. Einer der leichtesten ist wohl der von der Schulzeit: 13 Jahre „Zwang“ – im Einzelfall mögen es auch 14 sein – können über Bord geworfen werden, und man fühlt sich in der frisch gewonnen geglaubten „Freiheit“ am Beginn seines nun eigentlich erst richtig eigenständigen Lebens, am Anfang seiner „Selbstverwirklichung“. So viele Anführungszeichen, so viele Einschränkungen schon beim Nach-Wort auf die zu Entlassenden?

      Nach-Wort ist nicht „Nachruf“ – unsere Sprache unterscheidet hier recht gut. Nach-Wort ist hier gemeint von einem, der bleibt, an die, die gehen oder schon gegangen sind: in ihren Hoffnungen, Wünschen, Plänen. Es ist der Gruß des Lehrers (er bleibt: in seiner Pflicht vor dem nächsten Jahrgang, der nächsten Schülergeneration) an die Schüler, die gegangen sind, mit einem Zertifikat in Händen, von dem man meint, es öffne die Tür Eurer Berufswünsche, und das landläufig doch immer noch „Reifezeugnis“ genannt wird. Welche Widersprüche müsst Ihr nun neu erfahren?

      Was haben wir Euch also mitgegeben, wenn das Nach-Wort eines Bleibenden Euch beim Fortgang begleitet? Sind nicht Zweifel angebracht an dem, was Präliminarartikel zum Schulgesetzt an Erziehungs- und Bildungsauftrag einer Öffentlichkeit vorstellen, und dem, was Schulwirklichkeit daraus macht? Hier liegt doch ein erster Grund für den „Zwang“, dem Ihr nun enthoben zu sein meint. Aber an dieser Schulwirklichkeit, unserem Schulalltag, sind beide Seiten beteiligt: Lehrer und Schüler. Jenen Widerspruch zwischen Auftrag und Alltag müssen wir uns teilen.

      Hier liegt die Wurzel jenes „Zwanges“, den Ihr nun meint, hinter Euch gelassen zu haben; hier liegt das Grundverständnis oder Missverständnis von „Freiheit“, die Ihr durch die Schule vorenthalten bekommen zu haben meint; hier liegt der Anfang aller „Selbstverwirklichung“, von der viele meinen, mit so schneller Zunge reden zu müssen. Schüler und Lehrer sind auf Jahre – mal kürzer, mal länger – aufeinander angewiesen. Sicher, wir suchen einander nicht aus, und einige verstehen einander, andere nicht – aber, das ist ja nicht jener „Zwang“. Sondern der tägliche Ablauf der (doch noch) kleinen Pflichten: das tägliche Aufstehen-Müssen, der tägliche Gang zur Schule, die Hausaufgaben (wenn man sie gemacht hat), die Klassenarbeiten oder Klausuren, die Zensuren, die Zeugnisse … das sind