SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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gestattet, einige Gedanken und Orientierungspunkte abzustecken, die Ihnen helfen mögen, sich in unserer heutigen Welt einzurichten. Geschichte verläuft nicht nur im Nacheinander von Geschehnissen, sondern ist zugleich auch ein „Zusammenhang im Geschehen“ (Nicolai Hartmann). Der Mensch als kulturell determiniertes Wesen ist in ihr verwurzelt. Das heißt, der Zeitgeist, in dem der Mensch steht und mit dem er lebt, findet seinen Ausdruck nicht nur im Tradieren von Vergangenem, sondern wird auch geprägt von einem vielfachen Zusammenwirken waltender politischer, soziologischer und geistiger Strömungen und Veränderungen. Karl Jaspers sagt über Geschichte, dass wir durch sie uns selbst sähen, „gleichsam an einer Stelle in der Zeit, mit dem Staunen vor der Herkunft und vor der möglichen Zukunft, ganz gegenwärtig, je vieldeutiger die Zukunft wird.“-

      Wahrlich, die Menschheitsgeschichte versetzt uns in Staunen! Sie beginnt da, wo zum ersten Male der Gebrauch der Sprache, des Feuers und einfacher Werkzeuge die Arbeit des Menschen die Tätigkeit seines Geistes bezeugt; das mag 500 000 bis 600 000 Jahre her sein. Manch Historiker der nach den schriftlichen Quellen kaum mehr als 200 Generationen – also etwa den hundertsten Teil der Menschheitsgeschichte – einzuordnen vermag, sträubt sich dagegen, dass für die rund 20000 Generationen seit dem ersten Auftreten des Menschen ein so unheimlich langsames Entwicklungstempo angenommen werden soll. Dabei vergegenwärtige man sich einmal, wenn ein Mensch aus der Zeit um 1800 plötzlich in unsere Gegenwart hingestellt wäre, um einen Spaziergang vom Bremer Bürgerpark zum Hauptbahnhof zu unternehmen: Dieser Mensch fände sich wohl eher in der Welt zur Zeit der römischen Republik oder gar Babylons zurecht. Träte heute Ikarus unvermittelt in den Kreis der Weltraumpiloten, er würde angesichts der technischen Möglichkeiten den Sinn seines Sturzes wohl kaum begreifen. Der Mensch der Urwaldtrommel ließe heute sein Tam-Tam fassungslos verstummen, wenn er erleben könnte, wie durch die vervollkommnete Nachrichtenübermittlung, durch Rundfunk und Fernsehen jedes Tagesereignis an jedem anderen Ort der Erde miterfahren werden kann.

      Die Technik hat unsere Welt umfassend verwandelt. Wunschträume der Menschheit sind Wirklichkeiten geworden – und wir ergründen dies beinahe als Selbstverständlichkeiten. Dennoch vermögen wir heute trotz unseres noch so entwickelten Intellekts nicht abzuschätzen, wie die Welt aussieht, kämen wir einmal in die Verlegenheit, als Besucher aus der Vergangenheit eine Stippvisite in die Welt nach weiteren 3000 Jahren vorzunehmen. Meinen wir wirklich, im historischen Gang der Dinge alle Zusammenhänge, alle Entwicklung als kausale Notwendigkeit der Geschichte zu verstehen? Was ist denn notwendig geworden, dass unsere Welt so ist, wie wir sie heute vorfinden? Meinen wir, mit dem Bewusstsein der Notwendigkeit des Gewordenen in der Geschichte schon die Garantie für ein richtiges Handeln und Verhalten in der Gegenwart gepachtet und für die Zukunft geplant zu haben? Die noch so zündenden und frappierenden Theorien oder historischen Idealkonstruktionen über den notwendigen Verlauf von Geschichte dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass aller Notwendigkeit des Geschehens auch die Zufälligkeit beigegeben ist, die Zufälligkeit, die im Handeln von uns Menschen liegt.

      Meine Damen und Herren! In der Weltgeschichte – und das ist Hegels Täuschung – ist es nicht vernünftig zugegangen. Er irrte in der Annahme, dass eine philosophische Betrachtung der Geschichte die Absicht verfolgen müsse, alles Zufällige zu entfernen und nur den allgemeinen Endzweck der Welt zu konzipieren, nach dem in den großen Menschen der Geschichte sich nichts anderes äußere als der jeweils partikulare Wille des Weltgeistes. Auch die auf den ersten Blick bestechende Marx’sche Konzeption von dem notwendigen Ablauf der ökonomischen Gesellschaftsformationen oder das fatalistische Geschichtsbild eines Toynbee und ebenso das von Spengler großartig geschilderte Untergangsgemälde unserer Kultur entbehren der Notwendigkeit ihrer Erfüllung. All diese auf den notwendigen Ablauf von Geschichte gegründeten Theorien und Vorstellungen, ob sie nun auf Endzeithoffnung oder Endzeituntergang verfasst sind, fassen nicht das Element des Zufälligen, des Unvorhersehbaren in der Geschichte. Dieses Element aber liegt in ihr, wie es in uns Menschen liegt. Hier stehen wir vor dem Unbegreifbaren, dem Nichtverstehbaren von Geschichte, weil sie uns auch die Tiefgründigkeit unserer Existenz offenbart – in unseren guten wie in unseren bösen Handlungen. Hier waltet Geschichte in uns, und sie hat uns in der Gewalt. Es ist eine der schwersten Übungen für uns, diese Gewalt zu bewältigen.

      Jaspers hält das Sich-bewusst-machen von Gewalt als eine sehr wichtige Orientierung für unser heutiges politisches Denken, weil Gewalt ein unser Dasein bestimmender Faktor ist. Ich zitiere aus seinem von manchem Politiker nicht gerade geschätzten, weil zu offenherzigen Buch ‚Wohin treibt die Bundesrepublik?‘: „Wir müssen die Wirklichkeit der Gewalt anerkennen. Sie ist nicht schon abgeschafft durch den Willen zur Gewaltlosigkeit. Sie ist eine harte, nicht wegzudenkende Wirklichkeit. Wo sie verschwunden scheint in glücklichen, friedlichen, privaten Situationen, wird vergessen, dass auch dieses Dasein sich irgendwo auf Gewalt gründet, die andere vollzogen haben oder vollziehen. Der Gewaltlose ist Nutznießer solcher Gewalt. Und sogar in der Friedlichkeit selbst ist die Gewalt doch plötzlich in irgendeiner Form wieder da. Für politische Zielsetzungen ist sie zwar nicht Norm, aber einschränkender Faktor. Wer Vorstellungen absoluter Gewaltlosigkeit hat und an sie glaubt, verfällt eines Tages erst recht an die Gewalt.“ (a.a.O.; S 206) – Soweit Jaspers.

      Auf eine schlichte – vielleicht schlechte – Formel gebracht, heißt das: Gewalt bewältigen durch Gewalt. Wir finden diese Formel überall in der Geschichte bestätigt. In ihrer scheinbaren Paradoxie jedoch liegt für uns der Reiz, aber auch die Versuchung. Den Maßstab der Anwendung von Gewalt finden wir allein in der Rangordnung unserer Werte, nach denen wir – gleich von welcher Position aus – unser Leben eingerichtet haben. Keiner kann so vermessen sein, von sich zu behaupten, er habe die alleingültige Wertskala in der Hand und das allein glückverheißende Rezept. Wir wissen, dass die Menschen unterschiedlicher Auffassung sind über die Vorstellungen von Menschenwürde und Freiheit. Es sollte jedoch zum Wesen jedes offenen Denkens gehören, den Standpunkt des anderen zu überprüfen, zu überdenken, um vielleicht das eigene Urteil auch einmal zu revidieren. Wissen um Tatbestände und Offenheit im Anliegen sind Grundpfeiler echter Gewalt, auch geistiger. Man hat sich aber nicht in der Gewalt, wenn man die Meinung des Gegners gewaltsam oder mit versteckten Mitteln der Verketzerung zu unterdrücken trachtet.

      Sie, meine Abiturienten, werden bald erfahren – das gilt für unseren kleinen provinziellen Alltag genauso wie für den Bereich der großen Politik –, wie schwer das Maß echter Gewalt zu handhaben ist. Gewalt bewältigen ist nicht, in jugendlichem Übereifer und politischer Unausgegorenheit Macht zu demonstrieren und Gewalt herauszufordern. Gewalt bewältigen ist aber auch nicht, in institutioneller oder staatlicher Überheblichkeit den Willen Andersdenkender niederzuknüppeln. Es ist eine schwere Kunst, sich in der Gewalt zu haben. Es gehört manches Maß an Mäßigung dazu, auch Gelassenheit – wenn ich Sie an Gedanken meines Vorgängers an diesem Platze erinnern darf. Sie dürfen aber nicht gelassen zuschauen, wenn Gewalt missbraucht wird, und Sie haben die Pflicht – das möchte ich nicht versäumen, Ihnen mit auf den Weg zu geben –, Gewalt dort zu brandmarken und mit aller Kraft zu überwältigen, wo sie Verbrechen wird oder zum Verbrechen aufpeitscht. Noch sind die Wunden des Wahns nicht vernarbt, die ein Mann im Namen des deutschen Volkes der Welt zugefügt hat, da regen sich wieder Gesinnungstreue und versprechen, die „Ehre der Nation“ wiederherzustellen. Wehren Sie solchen uns bekannten Anfängen! Bekennen Sie, dass Sie nicht gewillt sind, solchen Rattenfängern zu folgen!

      In einem 1957 in der Aula der Universität von Uppsala gehaltenen Vortrag hat Albert Camus den Zuschauern das Bild jenes orientalischen Weisen in Erinnerung gerufen, der einmal um die Gnade zu beten pflegte, die Gottheit möge ihm ersparen, in einer interessanten Zeit zu leben. Da wir aber keine Weisen sind –so hat der Dichter das Bild auf uns Heutige umgekehrt –, habe die Gottheit es uns nicht erspart; und wir lebten in einer interessanten Zeit. So auch Sie, wenngleich Ihre Generation nicht die Erfahrung der unsrigen und der älteren hat durchstehen müssen. Ich wünsche Ihnen diese auch nicht. Nur wachhalten möchte ich Ihr Bewusstsein dafür, dass die Menschheit aus den furchtbarsten Katastrophen ihrer Geschichte noch immer nicht zu lernen bereit ist. Wie anders konnten wir in den vergangenen Tagen und Wochen die Absurdität der Worte eines – so nennt er sich – Staatsmannes begreifen, der sein Volk und die arabische Welt zum Kampf aufstachelte und sich nicht schämte, vor aller Weltöffentlichkeit die Vernichtung