SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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hier aufgenommen worden zu sein und wo er nun sein Leben beschließen wird.

      Vor allem aber möchte er in seinen Portraitskizzen den vielen Schülern, die ihn haben erdulden müssen (er war doch gar nicht so streng , wie ihm heute noch nachgesagt wird), noch einmal aufzeigen, dass jeder junge Mensch durch offene, fordernde und durch keine Ideologie verblendete Weltsicht den Problemen seiner Zeit sich stellen muss. Gerade in Zeiten, da nationale Interessen in Wirtschaft und Politik globalen untergeordnet werden und wir längst von ihnen abhängig sind, ist eine junge Generation gefordert, den Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit mutig entgegenzutreten, um in einer Welt zu leben, die noch lebenswert ist.

      Der alte Schulmeister wünscht euch Glück !

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      TEIL 1 Im Portrait: Der Schulmeister am Dienstort

      Thematische Einführung:

      Worte einer Verabschiedung

      (Studiendirektor Ibisch verabschiedet am 02.07.1991 den Kollegen Schikore) {6}

      Lieber Herr Schikore!

      Wenn wir Sie heute aus unserer Mitte verabschieden, so verlässt uns in Ihrer Person nicht nur ein geschätzter Kollege, sondern – wie man heute so sagt – ein Zeitzeuge eines Abschnitts der deutschen Geschichte, der für Sie mit dem Ende der sogenannten „goldenen 20er“ beginnt. Als Sie am 07. 06. 1929 geboren wurden, hatte sich Deutschland, so schien es, von Krieg und Inflation erholt, dunkle braune Wölkchen zogen zwar schon auf, waren aber noch nicht bedrohlich; doch ab Herbst 1929 zeigten sich Gewitterwolken einer Wirtschaftskrise von jenseits des Atlantiks, die unser Land dann schwer trafen. Was diese Wolken verursachten, schuf entscheidend die Voraussetzungen für die Zeitumstände, unter denen Sie 1939 Ihren 10ten Geburtstag begingen. Wenige Wochen danach begann der 2. Weltkrieg. Was das folgende Jahrzehnt Ihrer ausgehenden Kindheit und Jugend, für Deutschland, Europa, die Welt bedeutet, wissen wir alle aus Geschichtsbüchern. Für die älteren unter uns ist es erlebte, auch erlittene Geschichte, aber das Geschichtsbuch erzählt nichts über individuelle Schicksale. Gestatten Sie mir, das Ihrige hier ein wenig nachzuzeichnen.

      Mit 11 Jahren verlieren Sie Ihren Vater, „im Dienst für das Vaterland“, wie man Ihrer Mutter schreibt. Sie erleben die ersten Bombenangriffe und sind, wie Kinder zu allen Zeiten, froh über schulfrei. Bei Ihnen allerdings wird es nach mehr als zweistündigem Fliegeralarm am nächsten Tag gewährt. Bombenalarm gehört für eine Reihe unter uns zu den Kindheitserinnerungen, aber nicht die für Sie bald erfolgende Ausbildung am Karabiner 98, am MG 42, an Panzerfaust und Panzerschreck. Osteinsatz Ende 1944 mit dem Bau von Panzergräben gegen die Rote Armee, Fronteinsatz in einer Marine-Infanterieeinheit zur Verteidigung Ihrer Heimatstadt Stralsund in den letzten Kriegstagen folgen. Sie kommen mit dem Leben davon, viele Ihrer Altersgenossen nicht.

      Im Sommer 1945 holt Sie 16jährig zum ersten Mal für einige Wochen die sowjetische Geheimpolizei (GPU, NKWD, KGB). Sie hatten ja eine Uniform getragen, Ihr Vater, Ihre Lehrer ebenfalls. Als man Sie wieder entließ, mussten Sie unterschreiben, dass Sie nicht schlecht behandelt worden waren.

      Aufgewachsen unter einem Regime, das den Zweifel an seinem Alleinvertretungsanspruch als todeswürdiges Verbrechen geahndet hatte und der nun folgenden Aufklärung, dass gerade das verbrecherisch gewesen war, konnte für Sie der Konflikt mit der neuen Macht nicht ausbleiben. Flugblätter, die sich gegen Übergriffe der Besatzungsmacht gegenüber jungen Leuten und gegen den Alleinanspruch der FDJ richteten, führten am 19.11.1948 dazu, dass der Unterprimaner Schikore mitten aus dem Mathematikunterricht abgeholt wurde und am 07.02.1949 in Greifswald von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde. 19¾ Jahre alt – das Ende eines jungen Lebens? Vielleicht haben Sie in dieser Zeit häufig an Ihre Kameraden gedacht, die in den letzten Kriegstagen gefallen waren. Welche Lebensperspektive bot Ihnen denn die Abänderung des Todesurteils zu 25 Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit? Wieder in Uniform, nun einer gestreiften, mit grünem Querstreifen am linken Ärmel und rechten Hosenbein, verbrachten Sie unter der nichtssagenden Postanschrift Berlin N 4, Postfach 18 - 25 K; unter deutschem Kommando : BAUTZEN, Postfach 100, Personen-Nr. 70/A fünf Jahre im Zuchthaus, aus dem Sie am 16. 01. 1954 entlassen wurden.

      In West-Berlin wurden Sie als Spätheimkehrer anerkannt. Doch wovor standen Sie, als fast 25jähriger? Was hatten Sie denn gelernt? Während Sie Ihre Uniform trugen, waren zwei deutsche Staaten entstanden, boomte erstmals die Bundesrepublik, debattierte man über die Wiederbewaffnung, hatten wir anderen hier die Schule besuchen oder schon mit dem Studium beginnen können. Als Sie, aus Berlin ausgeflogen, mit Ihrer gesamten Habe, nämlich einem Pappkarton, in Hannover ankamen, standen Sie da nicht „draußen vor der Tür“? 1955 legten Sie in einem Lehrgang für Spätheimkehrer Ihr Abitur ab; begonnen hatte Ihre Schulzeit 1935.

      Nach dem Abitur haben Sie anfangs Theaterwissenschaften studiert – Sie haben bei Hilpert am Deutschen Theater kurz lernen können – dann Deutsch, Geschichte, Philosophie. Nach dem 1. Staatsexamen waren Sie ein viertel Jahr Moped-Kennzeichen-Versicherungs-fachmann bei der Gothaer Allgemeinen, kamen anschließend zum Vorseminar in Rinteln, von da zum Studienseminar Göttingen und sind nun seit Ihrem Assessoren-Examen seit April 1963 in Osterholz-Scharmbeck.

      Gesellschaftliche Veränderungen in der Bundesrepublik Ende der 60er Jahre zeigten Sie aufgeschlossen auch für Veränderungen in der Schule, für die Orientierungsstufe, für den Gedanken der Gesamtschule, als das Gymnasium und der Philologenverband, dessen Ortsgruppenvorsitzender Sie zeitweise waren, Ihnen nicht mehr zeitgemäß erschienen. Sie haben sich dann anders orientiert. Die Erfahrung hat Sie allerdings seitdem gelehrt, im Gymnasium moderner Form die Stätte zu sehen, in der am ehesten das Bildungsziel zu verwirklichen ist, das ich in Ihrem Sinne vielleicht in Kernsätzen so formulieren könnte: Die Qualität einer Schule wird in der harten hingebungsvollen Erziehungsarbeit des Tages geprüft. Auf der Wunschliste des Schülers steht obenan, etwas Sinnvolles fürs Leben zu lernen, gefordert zu werden, vor allem aber, gerecht behandelt zu werden. Die Schule ist die erste staatliche Instanz, mit der es der Schüler in seinem Leben zu tun bekommt. Es wäre eine Katastrophe, wenn er schon hier einsehen müsste, dass man sein Recht nicht bekommen kann, dass mit zweierlei Maß gemessen wird oder dass die Anforderungen zu billig oder zu hoch sind. Zu den verständlichen Schülerwünschen gehört aber auch Ordnung, die nicht Selbstzweck sein darf, sondern ermöglichen muss, dass zwischen den Teilnehmern am Schulleben ein Geist der Freundlichkeit wirken kann. Die Eltern haben das Recht, von den Lehrern eine angemessene wissenschaftliche und pädagogische Leistung zu fordern. Reform ist die Möglichkeit, die Formen, nicht jedoch die Grundsätze in Frage zu stellen. Leistungswille ist der Gegenpol zu geistiger Gammelei.

      Und so haben Sie in all den Jahren als engagierter Lehrer einen hohen Anspruch an Ihre Schüler gestellt, ob in Deutsch, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Philosophie. Forderungen an die jungen Menschen zu stellen, Leistungen von ihnen zu verlangen und ihnen nicht die Illusion vorzugaukeln, in der Schule oder im Leben werde Nichtstun belohnt, war gleichrangig für Sie mit Förderung.

      Nach dem Eindruck älterer Leute – und das können die auch immer beweisen – lernt die jeweilige Jugend stets weniger als die Alten in ihrer Jugendzeit. Das mag ein Grund dafür sein, dass ich in Ihnen am Ende Ihres Schuldienstes einen entschiedenen Befürworter des Gymnasiums als der Schulform sehen, die die Forderungen der intellektuellen Bildung und der sozialen Bildung junger Menschen auch in Zukunft erfüllen kann.

      Die reformierte Oberstufe sah in Ihnen einen engagierten Verfechter. Ihre besondere Aufgabe wurde die Organisation des Abiturs. Über mehrere veränderte Auflagen der VGO mit einer Fülle dazugehöriger Erlasse und Verfügungen mussten Sie immer wieder Schüler und Eltern informieren, Kollegen beraten, und es hat immer geklappt, es sind keine Fehler unterlaufen, die uns vor das Verwaltungsgericht geführt hätten. Jeder Abiturient dieser Schule müsse über Ihren Schreibtisch, wie Sie einmal gesagt haben, und so hat kein anderer Kollege über die Jahre hinweg einen besseren Gesamtüberblick über unsere Abiturientenjahrgänge gewinnen können als Sie. Die Formen des Abiturs und besonders die Vielzahl von Abiturienten in den 80er Jahren haben Sie aber auch mit gewisser Wehmut an die