SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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wie wir beide uns vor mündlichen Abiturprüfungen zusammensetzten und jeden Prüfungstext eingehend besprachen. „Erwartungshorizont“ – dieses Wort gab es noch nicht, praktiziert haben wir es lange vor seiner offiziellen Einführung. Diese Vorgespräche waren für mich immer auch befruchtende Fachgespräche.

      Wie fing eigentlich das Schulleben des Kollegen Schikore an einer höheren Schule an? Mit einem Wort: Hoffnungslos! Die Ferdinand-von-Schill-Schule, städtische Oberschule für Jungen in Stralsund, bescheinigte dem Schüler Klaus Dieter Schikore am Ende des dritten Vierteljahres 1940/41, dass er weder Mitarbeit noch Fleiß zeige, dass Deutsch, Englisch, Geschichte, Mathematik, Biologie mangelhaft, Erdkunde, Kunst, Handschrift vier seien, die Versetzung ausgeschlossen erscheine. Und was steht am Ende dieses Schullebens? Die Arbeit des Leistungsfachlehrers im Fach Deutsch wird offiziell folgendermaßen beurteilt: ‚Die Korrektur ist eingehend, genau und sachgerecht. Aus dem Korrekturbild ergibt sich schlüssig die Bewertung. Die Gutachten verzeichnen Vorzüge und Mängel der Arbeiten zutreffend und genau. Sie sind in sich schlüssig. Das Leistungsniveau wird in den Bewertungen bei einem vorbildlich strengen Maßstab zutreffend erfasst. Ein Viertel aller Arbeiten zeigt ein beachtlich hohes Leistungsvermögen.‘ – Ist das nicht eine Spanne?! Davon zu erzählen, muss allen Hoffnungslosen Mut machen, das ist ein Beispiel, das aufrichten muss.

      Sie werden im Sommer für Wochen den festen Boden unter den Füßen aufgeben und auf einer Segeljacht die Ostsee durchkreuzen. Die Neigung zum Wasser liegt Ihnen offenbar im Blut: Schon Ihr Urgroßvater war Hafenmeister in Swinemünde, Ihr Vater fuhr im 1. Weltkrieg um Kap Hoorn. Das Meer ist hart, es verlangt und gebiert rauhe Typen, und wer hat nicht erfahren, wie unser Schiko manchmal poltern konnte, wie man sich an ihm reiben konnte, ja ganz gewaltig stoßen konnte!

      Aber wer hat eigentlich von einer ganz anderen Seite gewusst, die empfindsame Worte, zarte Lyrik zu formen weiß? Ich zitiere:

      Es ist nicht wenig, was aus stillen Stunden davon vorliegt. Sie sollten ihn einmal darum bitten. Es eignet sich, wie ich gehört habe, auch ganz hervorragend für Interpretationsaufgaben!

      Sie haben, lieber Herr Schikore, sich gern als Schulmeister bezeichnet. Was steckte dahinter? Das Grimm’sche Wörterbuch sagt zu diesem Stichwort: 1. „In den Stadtschulen, wo man Latein lernt, ist das Wort verächtlich geworden.“ Deswegen haben Sie es wohl nicht gewählt. 2. „Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wusste nicht, was er gelesen hatte.“ Das passt wohl auch nicht. 3. „Gott will, man solle seine Schulmeister wie die Eltern in Ehren halten.“ Das könnte schon eher passen. 4. „Ein Schulmeister muss sein wie die Arche des Bundes im Alten Testament, denn in derselben war zwar die Rute des Aarons, aber auch das süßeste Manna.“ Das ist es: Es geht um Fordern und Fördern!

      Hat der Kollege Schikore auch außerdienstlich Eindrücke, Streiflichter hervorgerufen? O ja, z. B. als rasanter Tänzer, der für sich und seine Partnerin ungeheuer viel Platz brauchte, da er diagonal in großem Tempo die Tanzfläche zu durchmessen pflegte. Statt einer Tänzerin genügte ihm dafür auch nur ein Teller, der mit Köstlichkeiten eines kalten Büffets gefüllt war. Oder: Schon in reiferem Mannesalter bestieg er den 10-Meter-Turm im Schwimmbad und verließ selbigen mit einem wirklich vollendeten Kopfsprung. Die bewundernden Rufe der jüngeren Damenwelt konnte er wegen des Eintauchens ja nicht hören, aber die Blicke, als er das Wasser verließ!

      Lieber Herr Schikore, ich gebrauche nicht die Worte „Sie haben sich um die Schule verdient gemacht“, denn die sind im politischen Bereich zu oft gesprochen worden und zu oft auch für Unverdiente, aber ich bin überzeugt und befinde mich sicher in Übereinstimmung mit den Anwesenden, wenn ich sage, dass 28 Schülerjahrgänge Ihnen zu Dank verpflichtet sind. Wir, das Kollegium, die Schule, werden ohne Sie ärmer sein. Ich wünsche Ihnen gemeinsam mit Ihrer lieben Frau noch viele Jahre eines bewegten, tätigen Ruhestandes.

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      1.1 Festreden aus besonderem Anlass des Gymnasiums OHZ

      1.1.1 Festrede zur Entlassung des Abiturjahrgangs am 24. 06. 1967

      (Klassenlehrer: StR. Schikore)

      Herr Direktor!

      Verehrtes Kollegium!

      Werte Gäste!

      Meine lieben Abiturientinnen und Abiturienten!

      Als Sie vor noch nicht Jahresfrist sich als kommende Oberprimaner in diesem Saale versammelten, um durch Ihr Anwesendsein die ersten Abiturienten unseres Gymnasiums zu verabschieden, mag mancher sich von Ihnen noch unbewusst gewehrt haben gegen den Gedanken, in abzählbaren Tagen selbst in der Prüfung zu stehen und – zu bestehen: vor sich selbst, vor uns Lehrern und der Öffentlichkeit, d. h. doch vor der Gemeinschaft, in die wir alle gestellt sind. Aber ist es nicht zu verständlich, dass wir Menschen uns immer erst innerlich gegen etwas wehren, von dem wir wissen, dass es auf uns zukommt? Allein, darauf nimmt das Leben keine Rücksicht, es fordert uns, und in dem Moment besonders, wo wir vielleicht meinten, in Abwehr gegen das Unbekannt-Bekannte, in Geborgenheit oder gar in Gewöhnung uns einen vertraut gewordenen Lebensraum geschaffen zu haben.

      Heute haben Sie „bestanden“, das Damals ist für Sie gewesen. Heute ist es an Ihnen, Abschied zu nehmen. Und wer weiß, wer Sie morgen sein werden? Nicht Skepsis liegt in dieser letzten Frage, nicht ein Zweifeln an Ihrer Kraft, an Ihrem Willen, das Neuland, in das Sie nun hineintreten, auch bewusster und tapferer – im alten römischen Sinne – zu durchschreiten. Bangen könnten wir um Sie gewiss, die Sie als junge Menschen – noch relativ unbelastet mit den Erfahrungen des Lebens – in eine Welt hinausgehen, die anscheinend aus keiner Erfahrung ihrer Geschichte gelernt hat, die trotz furchtbarer Geschehnisse nach wie vor Parolen aus Hass, Neid, Missgunst und Blut auf die Transparente eines Fortschritts geheftet hat.

      Nein, dieses Unsichere, Beklemmende und vor aller Zukunft noch Ungeborene war mit der Frage nach Ihrem späteren Dasein noch nicht gemeint. Sie sollten sich nur einmal bewusst werden, wie sehr dieser für Sie so bedeutsame erste Abschluss Ihres Lebensweges eingebettet liegt in dem Gesamtzusammenhang dessen, was Geschehen heißt. Und dann stellen Sie vielleicht ein erstes Mal betroffen fest, wie gering, wie klein Ihr eben Erreichtes gegenüber dem ist, was jetzt neu kommt. Sie stehen wieder an einem Anfang: doch dieses Mal nicht – wie Rilke sagen würde – „vor allem Anfang“, sondern schon mitten in unseren Anfängen. Was aber ist dieses Mittendrin-Stehen in den Anfängen anderes als ein Beteiligtsein an Geschichte?

      Es ist manch einem Schüler – auch Abiturienten – liebgewordener Brauch, nach dem Erreichen seines Klassen- bzw. Schulzieles, die Schulbücher und -hefte den Flammen zu übergeben. Niemand – des seien Sie gewiss – würde beim Schein eines solchen Feuers glauben, die makabren Ereignisse des 10. Mai 1933 brächten sich unbewusst wieder in Erinnerung. Feuer muss nicht immer Schaden-, es kann auch Freudenfeuer sein. Aber doch symbolisiert eine solche Handlung den Abbruch mit einer Welt, die einem bislang geistige Heimat bedeutete, es symbolisiert das Überbordwerfen dessen, was man für spätere Zeiten als Ballast glaubt nicht mitschleppen zu brauchen oder – zu können. Ein solches Feuer im Kamin oder im Garten brennt sicher doch auch zur Freude darüber, dass für uns Menschen Abbruch Aufbruch ist.

      Sie, meine lieben Abiturienten, dürfen, ja, Sie müssen mit Ihrer Jugend sich freuen für Ihren Aufbruch. Denn die Räume, in die Sie hinausgehen, sind für Sie ebenfalls noch jung, neu. Und alles Junge und Neue birgt in sich den Reiz des Wagnisses. Wenn das Wagnis nicht wäre, wer wollte dann Geschicke und Geschichte, den Fortschritt unserer Menschheit begreifen? Auch wenn die Welt, die Sie erwartet, von Ihnen noch nicht recht verstanden werden kann, weil scheinbar das Koordinatensystem von schulischer Erfahrung, schulischem Wissen und Lebenswirklichkeit trügt oder kaum noch vernünftige Orientierung zulässt, so haben Sie doch in das Wagnis einzutreten. Was sollen Sie nun wagen? Und wofür? Diese Frage hat Ihre Generation an uns, die wir Ihnen ein Gerüst für Ihr weiteres Leben