SCHIKO – Portraitskizzen: Der Schulmeister aus einem vergangenen Jahrhundert. Klaus Schikore. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Schikore
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754946640
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Interessen und Neigungen am ehesten entspricht. Ihr lernt in einer Zeit, die Berufswunsch und -chancen computergesteuert verteilt, die selbst Fleiß und Leistung wegrationalisiert unter der Maßgabe des ökonomisch größtmöglichen Nutzens. Ihr lebt in einer Zeit, in der Euch die Mächtigen dieser Welt eine Zukunft unter Waffen garantieren und einen Himmel voller Raketen versprechen. Dieser Welt müsst Ihr Euch stellen – und Ihr könnt es: mit dem Willen, diese Welt zu ändern. Denn Ihr habt bei uns auch gelernt, die Gesellschaft, in der Ihr lebt, nicht nur in ihren positiven Erscheinungen, sondern auch in ihren Fehlern zu erkennen. Wir sollten Euch die Fähigkeit mitgegeben haben, Überlieferungswertes dieser Gesellschaft mit der Kraft Eurer Überzeugung zu erhalten, den Fehlern dagegen mit dem Mut Eurer Gedanken und dem Einsatz Eurer Person zu wehren. Denn auf Euch kommt Verantwortung zu: Eure Generation wird sich zwei Aufgaben verschreiben müssen, die entscheidend unsere Welt lebenswert machen – Menschlichkeit und Frieden.

      Was auf Euch konkret zukommt, wisst Ihr nicht, nur, dass Ihr Euch jenen Forderungen Eurer Zukunft stellen müsst. Hierin erfahrt Ihr Euren Anteil an Geschichte, die Euch die Entscheidung zu ihrer Mitgestaltung anbietet. Ihr könnt an den Weichen auch für unsere Weiterfahrt, von der ich oben gesprochen habe, selbst mit stellen und den Weg Eurer Zukunft mit bestimmen. Denn – ich schließe mit dem Schlussgedanken aus Ernst Blochs Hauptwerk ‚Das Prinzip Hoffnung‘: „Die Wurzel der Geschichte (…) ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

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      1.1.3 „Widerstand und Friede – die Verantwortung vor der Geschichte

      “Verabschiedung der Abiturientinnen und Abiturienten am 12. Juni 1987 (Festansprache: StD. Schikore)

      Werte Gäste! Werte anwesende Kolleginnen und Kollegen!

      Liebe Eltern unserer zu verabschiedenden Schüler!

      Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Ihr eigentlich angesprochenen in dieser Stunde!

      Gestattet dem Älteren in der Stunde des Abschieds noch einmal das vertrautere Personalpronomen, um Euch in einer unpersönlicher werdenden Zeit den Übergang zum Neuen, noch Unbekannten, nicht allzu krass erscheinen zu lassen.

      Ich habe aus drei Überlegungen lange Zweifel gehabt, ob ich der Bitte von Herrn Rechtmann, Euch im Namen der Schule zu verabschieden, entsprechen solle. Erstens: Ist nicht Euer heute von uns bescheinigte Erfolg und der nicht zu verschweigende Nicht-Erfolg von institutionellen und personalen Unwägbarkeiten beeinflusst worden? Was soll da eine Feier zum Abschied? Zweitens: War nicht Eure Schulwirklichkeit ein „Büffeln“, ein „Jagen“ nach Noten, Punkte – und davon möglichst gute und möglichst viele –, mit denen Euch Staat und Gesellschaft durch computergesteuerte Zähl- und IQ-berechnete Testverfahren die Startbedingungen in eine „Leistungselite“ oder in ein „Aussteigerdasein“ offen oder geschlossen halten? Was sollen da Wünsche zum Abschied? Drittens: Was erinnert Euch denn später einmal an diese namenlose Schule, diese anonyme Bildungseinrichtung, die in verordneter Traditionslosigkeit versäumt hat, Euch Leitbilder vorzugeben, deren Wirken und Lebensweg Jüngere, Nachkommende zu eigenverantwortlichem Handeln motivieren? Was sollen in einer zunehmend sprachlosen Zeit Worte zum Abschied? Lasst Ihr nicht vielmehr den Vorwurf an uns zurück, Euch sprachlos gemacht zu haben in einer Zeit, die so dringend der Worte bedarf? Ich versuche, Euch zu antworten. –

      Im Frühjahr des Jahres 1986, in der Woche nach Tschernobyl, wird in der 5. Klasse der Bielefelder Laborschule die Frage behandelt, wie es mit unserem Planeten weitergehen werde. Ein 11jähriger Junge schreibt zu dem Thema: „Es wird keinen Krieg mehr geben, die Luft wird wieder klar sein. Die Menschen werden nur noch Katalysator-Autos fahren. Computer wird es bald auch nicht mehr geben, weil die Menschen immer mehr arbeitslos werden. Die Bombenflugzeuge werden abgeschafft. Die Bäume werden grüner. Die Leute werden viel vernünftiger. Sie kapieren, dass das Ganze falsch war.“ Auch dies schreibt ein dreizehnjähriges Mädchen: „Die Erde wird vernichtet. Das Leben ist nur noch mit Robotern möglich. Die Häuser, Straßen und Firmen bestehen aus Eisen, Blech und Kunststoff. Autos werden durch Raumschiffe und Eisenroller ersetzt. Das Leben ist ohne Helm unmöglich; er besteht aus einem Funkgerät, einer Gasluftmaske, einer Antenne und einem kleinen Bildschirm. Es ist nirgendwo etwas Grünes zu sehen. Alles ist grau, hart und kalt. Die Menschen ernähren sich von künstlichen Sachen. Erdöl, Gas, Steinkohle und die anderen Metalle gehen langsam zu Ende. Der Tageslauf besteht aus Heroin, Alkohol und Schlägereien. Bald gibt es keine Menschen mehr. So stelle ich mir die Zukunft vor.“

      100 Jahre zuvor schreibt ein deutscher Philosoph, Friedrich Nietzsche, die seherischen Worte: „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon in einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

      Niemand weiß, was aus jenen Kindern, die so geschrieben, wird. Die älteren von uns haben alle ein Stück von dem, was Nietzsche sah, erfahren: Verdun, Stalingrad, Auschwitz, Dresden, Hiroshima. Spiegelt sich nicht in den naiv-erschreckten Kinderaugen die zu Ende gedachte Logik unserer historischen Existenz wider?

      Ich bin bei meinem heutigen Thema: Widerstand und Friede - die Verantwortung vor der Geschichte. Ich habe dieses so scheinbar gegensätzliche Wortpaar aus einer Sammlung von Aufsätzen zur Politik des von mir sehr geschätzten marxistischen Philosophen Ernst Bloch übernommen. Bloch ist jener Denker, der uns das „Prinzip Hoffnung“ als konkrete Utopie einer in der Zukunft zu verwirklichenden realen Demokratie vorstellt, indem der arbeitende Mensch sein Dasein radikal begreift, es an der Wurzel fasst und sich Heimat gründet. Und das – so müssen wir heute feststellen – in einer Zeit, da die Menschheit im Begriff ist, sich radikal auszulöschen. Wo ist Euch Hoffnung? Wo ist Euch Zukunft?

      Ein Grundübel, dem es zu widerstehen gilt: der Verlust von Eigenverantwortung und die Herrschaft durch Fremdbestimmung. Nicht erst seit heute wissen wir, dass die einst in der Geschichte mit viel Verzweiflung, Blut und Tränen erstrittenen Freiheitsrechte des einzelnen, dass die Vorstellungen der Menschen von einer vom Volkswillen getragenen und legitimierten Herrschaft zu reiner Makulatur in Schullehrbüchern und Propagandaschriften politischer Parteien degradiert worden sind. Im Zeitalter von Atomkernspaltung und Genmanipulation gelten andere Herrschaftsbedingungen. Der konservative Soziologe Helmut Schelsky hat das Verhältnis zwischen Mensch und Staat im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Zivilisation – schon 1961 – wie folgt definiert: „An die Stelle des politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert … Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime einer optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von diesen Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr ‚herrscht‘ man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert … hier ‚herrscht‘ gar niemand mehr, sondern hier läuft eine Apparatur, die sachgemäß bedient sein will … Das Volk im Sinne des Ursprungs der politischen Herrschaftsgewalt wird dann zu einem Objekt der Staatstechniken selbst.“

      Dies ist doch die Sprache, die wir täglich aus den Medien und selbst aus den Sitzungssälen unserer Gemeinwesen hören: dieses „optimale funktionieren“, diese „technischen Notwendigkeiten“, diese „Sachgesetzlichkeiten“ und „Planvorgaben“. Das ist doch der Zustand, in dem wir heute leben: abhängig, gespeichert und gesteuert von einer anonymen Apparatur, die uns den vermeintlichen Spielraum individueller Freiheit und politischer Eigenverantwortung nur noch in von sogenannten Sachzwängen bestimmten Fachausschussentscheidungen belässt. „Management“ ist heute gefragt. In den Top-Etagen der großen Glaspaläste managet man Arbeitsplätze wie Börseneinlagen; unsere tägliche Angst um Berufswahl, Broterwerb und Alterssicherung ist Arbeitsmarktstrategien, Inflationsraten und Außenhandelsbilanzen