So blieb Luisa nur das Gefühl, an dieser demütigenden Erfahrung auch noch selbst schuld zu sein.
Arthur hat mir all das, was er von Luisa und dieser Geschichte weiβ, mit wütendem Schweiβ auf der Stirn erzählt und dabei immer wieder über Männer geflucht, ohne eine Verallgemeinerung zu vermeiden.
„Und es gibt immer wieder solche Schweine, die sich über hilflose kleine Mädchen hermachen!“
„Und es hat sie immer gegeben“, antworte ich.
„Oh nein!“, ruft Arthur auβer sich. „Jetzt komm mir bloβ nicht mit solchem Geschwätz: hat es immer gegeben und wird es immer geben! Verdammt! Das ist eine krankhafte, niederträchtige...“
„Ja, ja, ich weiβ! Und ich will auch nicht sagen, dass es verzeihlich ist, ein Kind zu missbrauchen. Du sagst krankhaft, genau! Eine krankhafte Erscheinung, die es in fast jeder Zivilisation gibt und schon immer gegeben hat. Was mich nur wundert, ist, dass auch Völker wie die Mestizen in Südamerika, die man doch so gern als naturnah und naturverbunden hinstellt, von dieser Krankheit genauso betroffen sind wie die ‚hochzivilisierten’ Volksgruppen, beispielsweise in Europa.“
„Naturverbunden! Was heiβt das schon! Sie haben hier...“
„Eben! Sie haben hier wie überall solche unnormalen, psychisch kranken Mannsbilder, die ihre Machtgelüste an Kindern auslassen. Egal, ob Weiβe, Mestizen oder Indianer. Es gibt eben keine von Natur aus ‚edlen Wilden’!“
„Edle Wilde! Idiotische und romantische Schönmalerei der wilden Unzivilisation!“, meint Arthur.
Angesichts dieser längst vergangenen Ereignisse mag es vielleicht nicht mehr verwundern, dass sich Luisa jetzt, nach Abfahrt der Deisenhofers, nur fragte, warum sie wohl für Arthurs Vater nicht attraktiv genug gewesen war. Irgendetwas an ihr musste ihn abgestoβen haben, denn der Mann hatte nichts unternommen, sie zu „nehmen“. Sie holte einen Besen und fing an, die kleinen Sanddünen, die der Wind auf dem Gehweg vor dem Tor zusammengeweht hatte, auf die Straβe zu kehren.
Kapitel VI.
Kapitel 6
Über seine Erlebnisse in und um Independencia muss Arthurs Vater seinem Sohn viel erzählt haben. Er war hingerissen von der wilden Natur, die er dort kennen lernen sollte. Zwar war er auch in der Umgebung der Hauptstadt des Öfteren über die Pflanzenwelt ins Staunen geraten, jedoch hatte er auf seinen Erkundungsgängen nie wirklich Augen für die Umgebung, und schon gar nicht für landschaftliche Besonderheiten gehabt. Bisher war irgendwie alles von der Ungewissheit über die Zukunft überschattet gewesen.
Ganz anders konnte er sich jetzt, auf der Fahrt nach Independencia, dem Gefühl von fast ehrfürchtiger Bewunderung hingeben. Die wilde Schönheit der Natur übertraf selbst die Erinnerungen an die Flussfahrt vor drei Wochen. Fast auf der gesamten Strecke säumten tropische Bäume und Palmen die schwarzen oder ziegelroten Erdstraβen. Ein fast undurchdringliches, blütendurchsetztes Gewirr von Schlingpflanzen lag über dem ganzen Wald wie ein von riesigen Spinnen gewebtes Netz. Zwischendurch gab die hügelige Landschaft immer wieder den Blick frei auf kilometerweite Täler, wo man zwischen mannshohen Termitenhügeln groβe Herden grasender Zebu-Rinder erkennen konnte. Der Ausblick auf die scheinbar unendlichen Weiten ließ ihn tief Luft holen und endlich so etwas wie Zuversicht und sogar Freude auf alles Bevorstehende aufkommen.
In Independencia ging meist ein leiser, erfrischender Wind über die offenen Flächen an den Weinbergen, die sich Arthurs Vater bei seinem ersten Besuch in der deutschen Kolonie mit wachsender Begeisterung anschaute. Diese geordnet angelegten Pflanzungen hoben sich krass von dem wilden Landschaftsbild der Umgebung ab. Deisenhofer fuhr seinen Gast nicht ohne Stolz durch die Siedlung, redete dabei immer wieder von den verschiedenen Möglichkeiten sich in der Gegend selbstständig zu machen. Er zeigte Arthurs Vater zahlreiche Alternativen zu seinem ursprünglichen Vorhaben auf, die, seiner Meinung nach, bei Weitem lukrativer wären als der Verkauf von Tierhäuten. Arthurs Vater hörte Deisenhofer aufmerksam zu und die Vorstellung, sich hier in Independencia so bald wie möglich endgültig niederzulassen, setzte sich immer tiefer in seinem Kopf fest. Den klangvollen Namen des Ortes, Independencia, wertete er dabei als gutes Omen.
Die Häuser in dieser Siedlung waren nach deutschem Vorbild konstruiert, jedoch waren die Fenster deutlich gröβer, um den erfrischenden Wind hereinzulassen. Und die Dächer hörten nicht abrupt an den Auβenmauern auf, sondern reichten etwa einen bis anderthalb Meter weit hinaus, um die heiβen Sonnenstrahlen von der Hauswand abzuhalten.
Arthurs Vater musste das Bild, das er sich von Independencia gemacht hatte, vollkommen korrigieren. In seiner Vorstellung war der Ort so etwas wie ein Dorf oder eine Kleinstadt gewesen. Jetzt stellte er jedoch fest, dass so etwas wie ein Ortskern gar nicht zu erkennen war. Es gab lediglich einen kleinen Laden in Form eines schlichten, rechteckigen Gebäudes aus Holz mit einer Veranda, zu der drei ausgetretene, knarrende Treppenstufen hinaufführten. Etwas weiter auf derselben Straβe fand man die Dorfschenke, ein ebenfalls schmuckloser, rechteckiger Kasten aus Holz, wo man sich am Abend oder sonntags nach dem Gottesdienst zum Frühschoppen traf. Die einzelnen Wohnhäuser lagen weit verstreut im Umkreis mehrerer Kilometer, fast immer mitten im Wald.
Die sonntäglichen Gottesdienste in Independencia waren ein unausgesprochenes Muss für jeden Anwohner. Zwar ging es dabei nicht so sehr um die religiösen Inhalte der Predigten, sondern in erster Linie darum, Gemeinschaft zu pflegen. Dazu gehörten Klatsch und Tratsch ebenso wie geselliges Beisammensein in fröhlicher Runde beim Frühschoppen, woran sich „Evangelische“ genauso beteiligten wie „Katholische“.
Die Deisenhofers waren evangelisch und gehörten somit zur Minderheit von Independencia. Es gab wohl Leute, die meinten, die Katholiken der Siedlung seien durchweg besser betucht und von höherem Status, jedoch hat Julius Deisenhofer darüber nur den Kopf geschüttelt.
Während der nächsten Tage, die Arthurs Vater in Independencia verbrachte und auch bei dem feierlichen Frühschoppen nach deutscher Tradition erkannte er, dass es eine wichtige Gemeinsamkeit gab, die die Leute miteinander verband: Die deutsche Denkart. Was diese Denkart wirklich ausmachte, hätte er nicht ohne lange zu überlegen sagen können, aber irgendetwas schien alle hier in der Fremde zu verbinden, was nicht allein in der Sprache liegen konnte. Und obwohl die wenigsten je Sehnsucht nach der Heimat äuβerten, schienen genau die typisch deutschen Eigenarten das Band zu sein, das verhinderte, dass sich die Gruppe auflöste. Und schon kurze Zeit nachdem Arthurs Vater zum ersten Mal mit Christa und Julius Deisenhofer in der Dorfschenke gewesen war, hatte er das Gefühl, von allen wie ein alter Bekannter behandelt zu werden. Gastfreundschaft war hier wie in Asunción eine Selbstverständlichkeit.
Wenn sie zu dritt von ihren Ausflügen in der Umgebung zu den Deisenhofers nach Hause zurückkehrten und sich am Abend bei einer Flasche Wein auf die Veranda setzten, erzählte Deisenhofer meist von der Geschichte der Kolonie, von den Anfängen seiner Eltern als Pioniere in dieser Wildnis und den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die das Land bot.
„Man kann hier so viel auf die Beine stellen, mein lieber Freund“, sagte er immer wieder. Auf vorsichtiges Drängen von Arthurs Vater, die Möglichkeiten der Pelztierjagd etwas konkreter in Betracht zu ziehen, reagierte er zwar durchaus erfreut, allerdings nie mit handfesten Vorschlägen. Für Deisenhofer